Grim - Das Erbe des Lichts
streckte die Hand nach dem Kristall aus, hielt in der Bewegung inne und warf Grim einen Blick zu. Mit düsterer Miene sah Grim den Vampir an. Es ging ihm gewaltig gegen den Strich, einen Dämonenzauber mit sich herumzuschleppen — noch dazu einen, der alles andere als von geringer Kraft war. Dämonen waren tückisch und verschlagen, und was für sie selbst galt, traf auch auf ihre Zauber zu. Andererseits hatte Lyskian sein Verständnis für dämonische Magie bewiesen, er war sein Freund — und in seinen Augen lag eine Dunkelheit, die Grim einerseits beunruhigte, ihm andererseits jedoch eines ganz klar machte: Er würde Mia niemals schaden. Langsam nickte er und sah zu, wie Lyskian seine Finger um Mias Hand schloss.
»Dieser Zauber hat die einmalige Kraft, dich unsichtbar zu machen«, sagte der Vampir leise. »Benutze ihn, wenn es keinen anderen Ausweg mehr gibt. Er wird dich vor feindlichen Blicken verbergen, wo auch immer du dich gerade befindest, sobald du folgende Worte sprichst: Bh'afyn Lhega Torrn.«
Mia nickte und schien kaum überrascht, als Lyskian ihre Hand losließ und der Kristall darin auf einmal wieder in seinem schwarzen Beutel steckte. Wortlos schob Mia ihn in ihre Tasche, hob den Kopf und sah Lyskian eindringlich an.
»Warum gibst du mir einen so mächtigen Zauber?«
Lyskian erwiderte ihren Blick. Es schien, als fiele es ihm schwer, ihr in die Augen zu schauen. »Du bist nur ein Mensch«, sagte er mit ungewohnt brüchiger Stimme. »Das dachte ich, als wir uns kennenlernten. Aber jetzt ... Du bist mehr als das, Mia, viel mehr, als du selbst jemals begreifen wirst. Du hast mich zum Staunen gebracht, immer wieder — und du hast etwas in meine Ewigkeit getragen, das ich bereits vergessen hatte. Noch habe ich keine Worte dafür, aber ich fühle es bereits durch tausend wehende Tücher. Ich werde wohl nie wieder ein Menschenfreund werden wie Grim, aber
dein
Freund bin ich — jetzt und für alle Zeit.«
Grim sah das Lächeln, das kaum merklich über Lyskians Lippen huschte, sah auch die Schatten, die in seinen Augen lagen und seinem Gesicht für einen Moment eine düstere Tragik verliehen. Dann neigte der Vampir den Kopf, warf Grim einen letzten Blick zu — und war verschwunden.
Remis verschränkte die Arme vor der Brust. »Weiß der Teufel, wie die Blutsauger es schaffen, sich so schnell zu bewegen«, murmelte er. Mit leicht unzufriedenem Ausdruck auf dem Gesicht hob er die Brauen. »Ob heute noch mehr Überraschungsbesuche kommen, jetzt, da wir hier offenbar unser Lager aufschlagen werden?« Er schüttelte sich vor Kälte und nieste mehrfach hintereinander. »Theryon hätte schon längst hier sein sollen.«
Mia hob den Kopf und deutete zum Himmel. »Man kann die Sterne sehen«, flüsterte sie. »Ist das nicht seltsam?«
Grim folgte ihrem Blick und lächelte. Sie hatte ein Gespür dafür entwickelt, wie man nörgelnde Kobolde ablenken konnte, so viel stand fest. Tatsächlich stieß Remis ein bezaubertes Seufzen aus, als die Wolkendecke über ihnen gänzlich aufriss und ein Meer aus Sternen sichtbar wurde, dessen Schein im Bereich des Louvre nun nicht mehr durch die geballte Kraft greller Lichter übertüncht wurde.
»Für die Menschen wird es noch seltsamer sein als für uns«, murmelte der Kobold. »Sie wissen nicht, warum die Lichter plötzlich ausfallen und gleich darauf wieder angehen, warum ihre Glühbirnen auf einmal in schwarzem und grünem Licht erstrahlen. Sie wissen nicht, was hier vor sich geht.«
Grim stieß leise die Luft aus. »Ihr habt die Schlagzeilen ihrer lächerlichen Gazetten doch gelesen. Sie finden immer Erklärungen. Und sie scheinen noch nicht einmal zu merken, wie haarsträubend ihre Argumente sind.«
Remis kicherte leise. »Das ist wahr. Vom Klimawandel über Veränderungen der Sonnenoberfläche bis hin zu einem möglichen bislang unentdeckten Meteoritenabsturz ist alles dabei.«
Da befreite Mia sich aus Grims Umarmung und trat zurück. »Ihr tut so, als wären die Menschen dumme Kinder, die es nicht besser wissen«, sagte sie ärgerlich. »Und ja, vielleicht habt ihr damit sogar recht — aus eurer Sicht. Aber habt ihr euch mal überlegt, was ihr an der Stelle eines Menschen tun würdet, der plötzlich mit für ihn unerklärlichen Dingen konfrontiert wird? Seht euch um! Denkt ihr, für die Menschen ist das leicht hinzunehmen?« Sie hielt inne und schaute hinauf zu den Sternen. »Ich habe die Blicke der Menschen gesehen«, fuhr sie ruhiger fort. »Ich habe Angst
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