Grim - Das Erbe des Lichts
übers Feuer und ließ ein feines Rinnsal aus Sand in die Flammen fallen. Grim hob die Brauen, als die Flammen sich schwarz verfärbten und der Sand in wilden grünen Funken in die Nacht sprang. Hortensius zog die Hand zurück. Langsam rieselten Sand und Erdklumpen zu Boden. Im Schein des Feuers wirkte beides wie Fleisch und Blut. Grim wollte sich abwenden, aber da hörte er die Schreie, die plötzlich über das Feld drangen. Er wusste, dass es eine Illusion war, und doch starrte er wie gebannt auf die Erde in Hortensius' Hand, hörte die Sterbenden und roch Blut, Metall und Tod.
»Hier wurden Schlachten geschlagen«, sagte der Zwerg mit dunkler Stimme. »Kriege tobten hier zwischen Feen und Menschen, Zwergen und Dämonen, Elfen und uralten Alben. Hier war es, wo Kirgan die Macht Bromdurs empfing — hier fiel der letzte Krieger des Lichts, nachdem er die älteste noch lebende Fee in die Verbannung zurückgeschickt hatte.«
Da hob Carven den Kopf und flüsterte ein Wort, einen Namen, der Grim einen Schauer über den Rücken schickte. »Morrígan ...«
Theryon sog die Luft ein, doch er regte sich nicht. Er hatte einen Punkt am Horizont fixiert, eine seltsame Kälte ging auf einmal von ihm aus. Grim berührte ihn an der Schulter, doch der Feenkrieger lächelte abwesend und wandte nicht den Blick.
Hortensius stieß seinen Stock heftig in das Feuer. Die Flammen loderten auf, Mia und Remis fuhren erschrocken zurück.
»Morrígan, die Große Königin, die dem Tod ihre Hand verweigert«, sagte Hortensius düster. »Angehörige der Túatha Dé Danann — eine Fee des Zwielichts. Sie erscheint als Schönheit oder als Ungeheuer und wird beidem gleichermaßen gerecht. Häufig nimmt sie die Gestalt einer Krähe an, denn diese ist ihr Zeichen.«
Er zog den Stock aus den Flammen und zeichnete rasend schnell eine glühende Krähe in die Luft. Für einen Moment meinte Grim, die roten Augen aus Feuer schwarz aufflackern zu sehen. Mit zusammengezogenen Brauen sah er zu, wie die Feuerschnüre zu Boden fielen und erloschen.
»Lange kämpfte sie gegen die Herrschaft der Menschen auf dieser Insel — bis Kirgan sie verbannte«, fuhr Hortensius fort. »Besonders die Unschuld der Kinder, nach der sich ihr erkenntnisstarres Herz heimlich sehnte, verfolgte sie mit blutiger Hand, und viele Sagen berichten davon, wie Morrígan ihre Opfer bei lebendigem Leib verschlang, ehe sie in tiefen, todesähnlichen Schlaf fiel. Die Unschuld der Kinder, so steht es in den Schriften der Alten, soll ihr diesen Schlaf gewährt haben — denn für gewöhnlich schlafen Feen niemals.«
Remis schluckte hörbar. »Soll das heißen«, flüsterte er und zwinkerte ängstlich in Richtung der Flammen, »dass sie Kinder gefressen hat?«
Theryon nickte langsam. »Ich habe euch von der Sehnsucht der Feen erzählt«, erwiderte er. »Von der Sehnsucht nach dem Ersten Licht. Und es ist, wie ich sagte: Für Außenstehende ist es nur schwer zu ermessen, wie kalt ein Leben in der Dunkelheit des Geistes ist — und wie verheißungsvoll die Aussicht auf ein wenig Linderung, die die Unschuld verspricht. Nichts anderes ist ja das Erste Licht: Unschuld, Poesie, das Ewig-Kindliche, und in keinem Geschöpf dieser Welt findet man es in reinerer Form als in den Kindern der Menschen. Je älter eine Fee ist, desto größer wird die Dunkelheit in ihrem Inneren und desto brennender ihre Sehnsucht — oder ihre Gier. Und Morrígan ist sehr alt.«
Kaum hatte er das gesagt, flackerte ein Licht über den Himmel, bläulich schimmernd wie ein Nebel aus Farben, und verschwand gleich darauf.
»Ein Nordlicht«, flüsterte Mia.
Theryon legte den Kopf in den Nacken. Sein Gesicht hatte einen angespannten Ausdruck angenommen. »Samhain steht bevor«, sagte er leise wie zu sich selbst. »Jene Nacht, in der fremde Welten sich uns leichter nähern können, eine Nacht voller dunkler Magie und uralter Geheimnisse. Nicht selten kommt es zu rätselhaften Phänomenen, Nordlichter ziehen über den Himmel, Hagelkörner fallen an einem sonnigen Tag. Und die Verbannten nähern sich unserer Welt. Dämonen, Alben ... und Feen.«
Kaum hatte er das letzte Wort ausgesprochen, wehte ein lang gezogener Klagelaut über die Hügel zu ihnen herüber. Er kam weder aus der Richtung des Dorfes noch vom Friedhof, und die Krähen waren plötzlich ebenso verstummt wie der Wind oder die heiseren Schreie Asmaels. Es war, als hätte sich eine Glasglocke über sie gestülpt, unter der nur bestimmte Geräusche hörbar
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