Grim - Das Erbe des Lichts
von solcher Tiefe, dass die Luft vibrierte. Es war, als würde eine uralte, dunkle Macht aus einem gefrorenen Meer aufsteigen, als würde sie durch einen Kosmos aus Dunkelheit und Kälte reisen, ehe sie mit einem gewaltigen Krachen die Eisdecke durchschlagen konnte. Das Beben wurde stärker und schließlich so heftig, dass Grim auf die Knie fiel. Dann hörte er die Schreie. Es waren Schreie aus tausend unmenschlichen Kehlen, Schreie, die etwas in ihm erschütterten, von dem er bislang nicht gewusst hatte, dass es überhaupt da war. Gleich darauf ging ein Ton durch die Klänge wie das Zerreißen eines gewaltigen Pergaments, gemischt mit dem Zischen von brennendem, nassen Holz. Grim spürte Wind auf seinem Gesicht, er hörte ein Stöhnen, das aus vielen Kehlen an sein Ohr drang — von der Erde, der Luft, dem Wasser, dem Feuer, von Steinen und Gebäuden, von Tieren und Pflanzen, ein Laut des Erwachens und Wiedererwecktwerdens. Grim kannte das Gefühl, das nun in ihm entbrannte: Er spürte es jedes Mal nach einem Schlaf im steinernen Körper, doch nun war es unendlich viel stärker. Dieser Ton, der nun die Welt durchdrang, war der Laut des Wandels und des Neuanfangs — der Schrei des Phönix, der aus der Asche zu neuem Leben auferstand.
Vor ihm stand die Schneekönigin. Sie hatte ihren Zauber beendet. Grim sah zu ihr auf und wusste, dass es kaum mehr als wenige Tage dauern würde, bis die Grenze vollständig gefallen war. Dann würde die Feenmagie mit aller Macht zurück in die Welt strömen, die Armee der Königin konnte ihrer Herrin folgen — und die Menschheit würde vernichtet werden. Grim sah in die dunklen Augen der Fee, und er meinte, ein Lächeln auf ihren Lippen zu erkennen, ein Lächeln ohne Kälte und ohne jeden Triumph.
Dann begann ihr Körper zu leuchten, sanfter Silberschein flammte über ihre Haut. Grim sah die flirrenden Lichter der Feenkörper, als sie sich um die Königin scharten, und die dunklen, flammenden Leiber der Alben ringsherum. Die Königin griff nach Jakob und hielt ihn in ihren Armen. Er sah aus wie eine leblose Puppe, während das Licht um die Feen immer heller wurde. Wieder flüsterte die Königin etwas und stieß gleich darauf einen Schrei von solcher Macht aus, dass Grim der Atem stockte. Etwas Gleißendes zerriss die Luft wie ein Blitz, als die Königin in rasender Geschwindigkeit mit ihrem Gefolge durch die Decke brach und verschwand.
Die Winde zitterten unter der mächtigen Magie. Grim wich vor den fallenden Gesteinsbrocken zurück, doch schon traf ihn etwas am Kopf. Er spürte die dunkle Flut der Ohnmacht, die ihn mit sich riss, und hörte noch die Stimme der Schneekönigin in seinem Kopf:
Die Menschen,
flüsterte sie.
Sie sind es nicht wert.
Dann wurde Grim schwarz vor Augen.
Kapitel 16
ia fiel neben Grim auf die Knie. Eisblumen zogen über sein Gesicht, sein Atem ging flach und war kaum mehr als ein lautloser Hauch aus Kälte. Die Wunde an seiner Stirn, die ein Teil der Decke ihm geschlagen hatte, schloss sich langsam, doch sein Heilungszauber kostete ihn zu viel Kraft. Wieder bebten die Wände, Mia zog den Kopf ein. Die Menschen wurden von den Schattenflüglern nach draußen geführt, fassungsloses Gemurmel zog durch das steinerne Stöhnen des einstürzenden Louvre.
»Grim«, flüsterte Mia und beugte sich über ihn. »Wach auf.« Sanft küsste sie ihn, seine Lippen waren eiskalt, und flüsterte einen Heilungszauber. Sie spürte, wie ihre Kraft seinen Rachen hinabglitt, und fühlte die wiederkehrende Wärme seiner Haut. Lyskian ging neben ihr in die Knie.
»Wir müssen diesen Ort verlassen«, sagte er ruhig, doch Mia hörte die Anspannung in seiner Stimme. Selbst für einen Vampir gab es Angenehmeres, als von tonnenschweren Steinlasten erschlagen zu werden.
Grims Lider flatterten, als er die Augen öffnete. Stöhnend fuhr er sich an die Stirn, doch Mia hielt seine Klaue zurück. Die Wunde schloss sich schnell, aber sie war noch nicht vollständig verheilt.
»Was zum Teufel ...«, grollte Grim und kam mit Lyskians Hilfe auf die Beine. Zusehends kehrten seine Kräfte zurück, und der unheimliche Schatten, der auf seiner obsidianschwarzen Haut gelegen hatte, verschwand.
Sie folgten den Menschen und Schattenflüglern in die Hall Napoleon. Mia stockte der Atem. Die gläserne Pyramide war eingestürzt. Nun lagen ihre Scherben in der Eingangshalle des Louvre, glitzernd wie Schollen aus Eis. Mia schauderte, als sie an die Schneekönigin und Alvarhas dachte. Wieder fühlte
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