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Grim - Das Siegel des Feuers

Grim - Das Siegel des Feuers

Titel: Grim - Das Siegel des Feuers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gesa Schwartz
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täuschen sich selbst. Diese Täuschung findet sich auch bei den Hartiden. Viele verleugnen, was sie sehen und was sie fühlen. Viele tun das aus Angst — so wie du. Das ist auch der Grund, aus dem du so lange Zeit nicht gesehen hast, was doch da war.«
    Mia verschränkte die Arme vor der Brust. »Angst? Wovor?«
    Theryon neigte den Kopf. »Das kannst nur du selbst bis zum Letzten beantworten. Aber hast du nicht gesehen, wie Lucas unter seiner Gabe gelitten hat? Die Menschen haben ihn und seine Sehnsucht nie begriffen. Er musste sie verschleiern, unkenntlich und abstrakt machen, um nicht verhöhnt zu werden. Dann haben sie ihn gefeiert, aber verstanden haben sie ihn nie. Und je mehr er über die verborgene Welt um ihn herum erfuhr, desto mehr fühlte er sich als Sehender unter Blinden in der Welt der Menschen und als Verfolgter und Heimatloser in Ghrogonia. Er war einsam. Das ist kein Zustand, den man erreichen möchte. Dein Leben lang hast du dich nach der Anderwelt gesehnt — aber sie hat dir auch deinen Vater genommen und deinen Bruder. Du bist eine Hartidin, der Zauber des Vergessens erreicht dich nicht. Und doch bist du mitunter ebenso blind wie ein gewöhnlicher Mensch. Es wird noch eine Weile dauern, bis du die verborgene Welt um dich herum überall erkennst — zu lange hast du dich von der so genannten Realität täuschen lassen. Es wird ein langer Weg für dich, deine Hartidbegabung vollends zu entfalten. Aber du darfst dich nicht vor der Welt verschließen, die dir geöffnet wurde. Sie ist ein Teil von dir. Das wird sie immer sein. Angst und Trauer werden sich eines Tages rächen, wenn du sie verdrängst.«
    Mia fühlte den Knoten in ihrem Brustkorb, als wäre er ihr Herz. Sie wusste, dass Theryon recht hatte — jedes seiner Worte traf sie wie ein Schwerthieb. Und doch konnte sie ihm nicht zustimmen. Sie saß einfach da, bis er die Hand nach ihr ausstreckte. Seine Finger waren kühl an ihrer Wange.
    »Dieser Weg ist hart, Mia«, sagte er leise. »Du hast ihn dir nicht ausgesucht. Aber du bist frei. Du allein triffst die Entscheidung, ob du ihn gehen willst.«
    Sie sah ihn an und fühlte eine Welle der Gelassenheit, die sich als warmer Mantel um ihre Schultern legte. Sie nickte.
    Theryon erhob sich, und sie folgte ihm. Er führte sie ins Innere der Burg, Treppe um Treppe abwärts in die Dunkelheit. Sie gelangten in einen Raum, dessen Ränder sich in den Schatten verloren. In seiner Mitte lag ein See, der leuchtete, als hätte er das Licht des Mondes gefangen. Die Oberfläche war so regungslos, dass Mia sich darin spiegelte. Fast wäre sie zurückgeschreckt. Sie sah müde aus, und in ihren Augen lag eine Härte, die sie noch nie an sich bemerkt hatte.
    Theryon trat hinter sie. Wortlos legte er seine Hände an ihre Schläfen. Da wurde das Wasser schwarz. Mia schwankte — und spürte einen Stoß im Rücken. Im nächsten Moment fiel sie nach vorn, hinein in Dunkelheit und Kühle. Sie streckte die Hände aus, doch sie fiel durch einen nicht enden wollenden Schacht. Da tauchten Bilder um sie herum auf, sie sah sich selbst an der Hand ihrer Mutter und fühlte die kratzige Strumpfhose auf ihrer Haut, die sie als Kind hatte tragen müssen. Lucas' Stimme aus weiter Ferne, Josis lachendes Gesicht, die traurigen Augen ihrer Mutter, Bäume, die sich im Wind bewegten, Gesichter von Verwandten, Freunden, Bekannten, der Geruch von Mandelkuchen und das Klingen von Glöckchen auf dem Weihnachtsmarkt. Sie war wieder Kind, Tochter, Schwester, Freundin, tausend Bilder rasten um sie herum und durch sie hindurch. Sie war viele, ein Mosaik, das sich immer wieder neu zusammensetzte. Dann Hybriden, verzerrte Fratzen, ganz klein Jakob, er floh vor ihnen. Sie hörte ihre Schreie, sie zerrissen die Luft. Sie hatte schreckliche Angst. Es wurde dunkler, die Bilder verschwammen, und nur eines blieb übrig. Sie sah Jakobs Gesicht, zuerst nur seine Augen, dann seine Wangen, seinen Mund. Sie sah, dass er schnell atmete. Die Verzweiflung in seinen Augen nahm ihr den Atem. Er wandte den Kopf, jetzt sah er sie an.
Mia,
flüsterte er in ihren Gedanken. Und dann der Schuss. Er war nicht zu hören, aber er schlug sich seinen Weg durch ihr Innerstes, als wollte er ihren Körper in Stücke reißen. Sie schrie — ein einziger heller Schrei.
    Sie fiel auf die Knie und fand sich neben dem See wieder. Ein Zucken ging durch ihren Körper, der Knoten in ihrem Brustkorb wurde heiß und brach.
Mia,
hörte sie wieder.
Mia. Mia.
Tränen schossen ihr in

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