Grim - Das Siegel des Feuers
die Augen. Sie wollte sich beruhigen, konnte es nicht und geriet darüber in heillose Verzweiflung. Sie rollte sich auf dem Boden zusammen und weinte wie ein Kind. Nach endlos langer Zeit, wie es ihr schien, als schon lange keine Tränen mehr gekommen waren und sie sich seltsam leer und betäubt fühlte, kehrte ein Bild zurück, erst klein und dunkel, dann immer heller. Jakob. Er lächelte, wie damals, als sie nach ihrem Friedhofsbesuch bei ihm gesessen hatte, er sprach mit ihr, als säße er neben ihr, und da, sie fühlte es deutlich, griff seine Hand nach ihrem Haar. Sie richtete sich auf und sah ihn an, es schien ihr, als wäre es das letzte Mal. Und leise flüsterte sie in Gedanken:
Du fehlst mir.
Sie wusste nicht, wie lange sie so gesessen hatte, bis Theryon die Stille durchbrach.
»Es gibt Verletzungen, die niemals heilen«, sagte er. »Vielleicht kann diese Wunde Quelle sein für das, was du wirst.« Er zog etwas aus seiner Tasche. Es war das Pergament, Mia wusste es, ehe sie es sah. Zögernd nahm sie es in die Hände, löste das Siegel —und erstarrte. Die goldenen Zeichen liefen darüber hin, aber sie verwandelten sich vor ihren Augen, wie eine Sprache, die eben noch fremd gewesen war und die sie wie durch Zauberhand erlernt hatte. Sie hielt den Atem an, doch die Zeichen blieben. Sie fühlte ihren goldenen Schein auf ihrem Gesicht.
»Mia«, sagte Theryon leise, und sie hörte, dass er lächelte. »Du kannst sehen.«
Kapitel 41
unkelheit. Grim fragte sich, ob er jemals aus dieser Finsternis herauskommen würde. Aber er hatte es ja selbst so gewollt. Wohlbehalten hatte er mit Mourier und dem Rest des Teams ihr Versteck erreicht, doch nach wenigen Stunden hatte ihn eine Unruhe befallen, die ihn wieder in den Dorn getrieben hatte. So war er zurückgekehrt, um herauszufinden, was Seraphin vorhatte — und nun hockte er seit geschlagenen drei Stunden in einer winzigen Kammer und wartete darauf, auf den Gang hinausschleichen zu können.
Doch ihr Eindringen in den Turm und die Befreiung Mouriers waren nicht ohne Folgen geblieben. Wie verrückt schwirrten die Hybriden durch den Turm und durchsuchten die halbe Stadt. Grim lächelte düster. Sie würden ihn nicht finden. Dafür war er ihnen schon zu nah.
Er dachte an den Rekruten zurück, an dessen Bett er noch vor wenigen Stunden gesessen hatte. Es war einer der Anwärter für die Schattenflügler der OGP gewesen, seit zwei Tagen krank — und eigentlich längst ein Kandidat für das Feld der Willenlosen, wie Grim die Ebene vor der Stadt inzwischen nannte, auf der sich die Gargoyles zusammenfanden, die dem Zauber des Rattenfängers unterlagen. Doch die Nornen, die sich um die Kranken kümmerten, hatten etwas Bemerkenswertes festgestellt: Der Zauber hatte an Kraft verloren. Also hatte Seraphin sich selbst geschadet. Er hatte Mourier in den Zauber geschleudert und diesen dadurch verlangsamt. Nun würde es länger dauern, bis er den Willen eines Gargoyles gebrochen hatte. Grim machte sich allerdings keine Illusionen. Sie hatten einen Aufschub bekommen — mehr nicht. Noch immer lockte Seraphin die Gargoyles an wie der Rattenfänger die Kinder, ohne dass sie wussten, was er mit ihnen vorhatte.
Grim fröstelte. Es kam ihm vor, als hätte er seit Langem überhaupt nicht mehr geschlafen. Sicher, sein Körper versteinerte in der Morgendämmerung wie eh und je, aber inzwischen waren jene Abende, an denen er wie gerädert erwachte, zur Regel geworden. Er fühlte keinerlei Entspannung, keine Erleichterung und Erfrischung mehr nach dem Schlaf. Er wusste, was das bedeutete: Seine Traumreserven waren aufgebraucht. Wenn er nicht bald die Möglichkeit bekam, wieder menschliche Träume aufzunehmen, würde er erst krank werden und dann wahnsinnig — er hatte es bei Pheradin gesehen, und der war mindestens fünfmal so alt und stark wie er selbst. Grim atmete langsam ein und aus, aber es fiel ihm nicht leicht, sich zu beruhigen. Ghrogonia brauchte ihn. Er war als Einziger nicht vom Fluch des Rattenfängerzaubers befallen worden. Eine kalte Gewissheit legte sich auf seine Stirn: Wenn er versagte, würde Seraphin siegen.
Kaum hatte er das gedacht, ließ ihn ein schrilles Geräusch zusammenfahren. Irgendwo waren Gläser zu Boden gefallen, jemand lachte — es war ein eisklares Lachen aus der Kehle Seraphins. Grim lauschte. Draußen auf dem Gang war es still. Schnell schob er die Tür auf und glitt auf den Saal zu, aus dem er das Lachen gehört hatte. Es war der Thronsaal des
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