Grim - Das Siegel des Feuers
gut, und der wahre Feind begegnet dir als guter Freund. Ich möchte es dir überlassen, ein Urteil zu fällen — dir allein. Und da du mir nicht vertraust — gar nicht vertrauen kannst nach allem, was bisher geschehen ist —, habe ich jemanden hergebeten, der sich vor Kurzem meinem Weg anschloss und der dich erkannte, als ich dich hierher brachte. Vielleicht vermag er deine Zweifel besser zu zerstreuen als ich.«
Mit diesen Worten öffnete er die Tür. Ein Hybrid trat ein. Er trug eine dunkle Uniform, aber Mia achtete nicht darauf. Auf einmal stand sie wieder vor der Mauernische in der Gasse Ghrogonias und half einem Hybriden bei der Flucht, indem sie das Schloss seiner Fessel brach. Sie erinnerte sich an seine braunen Augen und das sanfte Lächeln, und als er sie jetzt ansah, lachte er, dass sein Blick Funken sprühte.
Vor ihr stand Morl.
Kapitel 51
rim lag auf dunklem Felsgestein, und seine Finger tasteten mühsam über seine Brust, an der verkrustetes Blut klebte. Doch in ihm regte sich nichts mehr, er fühlte keinen Herzschlag. Wie Blitze schossen die Erinnerungen auf ihn ein. Wieder sah er Seraphin vor sich, wieder flog er hilflos durch die Luft, wieder schwanden seine Sinne vor Schmerz und Verzweiflung. Er fühlte noch einmal die Kälte des Todes, die unbarmherzig über seinen Körper gestrichen war, und den übermächtigen Drang, Mia anzusehen — ein letztes Mal. Doch es war ihm nicht gelungen.
Er griff sich an die Kehle, auf einmal spürte er sie wieder, die Flammen, die sein Innerstes zerfetzt hatten wie wertloses Papier. Seraphin hatte ihn umgebracht, zum Teufel noch eins, was bildete der Kerl sich ein? Er — war — tot! Er sagte es sich einige Male halblaut vor, aber dadurch wurde es für ihn nicht glaubwürdiger. Irgendwie hatte er sich den Tod anders vorgestellt — in gewisser Weise ... toter.
Er presste sich eine Klaue gegen die Schläfe und zwang sich, einen kühlen Kopf zu bewahren und die schwarzen Schlieren zu vertreiben, die seinen Blick benebelten. Ihr Plan war nach hinten losgegangen. Er hatte den Kampf gegen Seraphin verloren. Er hatte versagt, und nun war er tot, abgeschnitten von jeder Möglichkeit, Seraphin doch noch aufzuhalten. Aber diese Katastrophen verblassten vor dem Gefühl, das mit einem Namen seine Brust durchzog wie ein tödlicher Schwerthieb: Mia. Er hörte ihre Worte wie eine ferne Melodie in seinem Kopf.
Ich glaube ... ich habe mich in dich verliebt.
Wo war sie jetzt? War sie etwa tot, genauso wie er? Der Gedanke zog ihm das Herz zusammen, dass es schmerzte. Entschlossen ballte er die Klaue zur Faust. Er würde herausfinden, was mit Mia geschehen war, so viel stand fest. Er musste zu ihr zurückfinden — um jeden Preis. Aber wo zur Hölle war er überhaupt?
Es stank nach Schwefel, und als er die Schatten vor seinen Augen fortgewischt hatte und sich umsah, stellte er fest, dass er sich in einer gewaltigen Höhle am Ufer eines Flusses befand. Nebel waberte über das schwarze, undurchsichtige Wasser und verbarg die gegenüberliegende Seite vor Grims Blick. Meterdicke Baumwurzeln hatten sich in die Höhlendecke gegraben, sie schimmerten in blutigem Rot. Trotz des Nebels war es heiß, Flammen und dichte Rauchschwaden krochen aus Rissen im Boden und verwoben sich zu gespenstischen Gestalten. Sie begannen zu tanzen und griffen nach Grims Gesicht, er hörte sie lachen, ein Totenreigen nur für ihn.
Die Erkenntnis kam so plötzlich, dass sie ihm einen Ruf des Erstaunens entlockte. Er war in der Hölle gelandet! Der Schreck ließ ihn schwanken, und er musste sich an einem schrumpligen Felsen festhalten, um nicht umzufallen. Er war in Hels Reich — Hel, die Totengöttin! Verdammt! Er hatte seine Wette mit Fibi, diesem teufelsgläubigen Narren, verloren, es gab sie also tatsächlich. Dabei hatte er Hel ebenso wie die unendlichen anderen Jenseitsvorstellungen immer für einen Mythos gehalten.
Es existierten zwar zahlreiche Aufzeichnungen über Begegnungen mit ihr oder einem ihrer Boten, ganze Bibliotheken hätte man mit den Geschichten darüber füllen können. Geschichten über die Midgardschlange Jormungand, Bythorsul genannt in der Anderwelt — die Höllenschlange, die einmal durch die ganze Unterwelt reichte und die Seelen in ewiger Umklammerung hielt, und über ihren Bruder, den Fenriswolf, der einst mit der magischen Fessel Gleipnir gebunden worden war und sich erst zu Ragnarök, dem Weltenuntergang, befreien würde. Oder über Hel selbst, die Schwester der beiden,
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