Grim - Das Siegel des Feuers
rührte sich nicht. Natürlich hatte sie das erwartet, was denn sonst?
»Ich brauche es«, fuhr Seraphin fort. »Ich brauche es für meinen Plan. Auf den Menschen lastet ein Fluch — ein Zauber, der sie in Ketten legt.«
Mia schluckte. »Der Zauber des Vergessens«, sagte sie leise. »Was geht dich dieser Zauber an?«
Seraphin musterte sie, reglos wie eine Katze vor dem Sprung. »Ich will ihn brechen.«
Leise hatte er das gesagt, aber seine Worte fuhren ihr als eisiger Windhauch ins Gesicht. Konnte das wahr sein? Hatte ihr Erzfeind, der Hetzer Jakobs und ihr Verfolger, gerade wirklich diese Worte gesprochen?
Sie lächelte spöttisch. »Warum solltest du das wollen? Und wieso lässt du die Gargoyles in die Oberwelt ziehen? Weil sie sich auf ihre wehrlosen Opfer stürzen sollen, sobald es dir passt!«
Etwas wie Bestürzung spiegelte sich in Seraphins Blick, als sie das sagte. »Die Gargoyles werden in die Oberwelt ziehen«, sagte er langsam. »Denn ich will, dass die Menschen bei ihrem Erwachen denen in die Augen schauen, die so lange von ihnen getrennt waren. Und auch die Gargoyles sollen die wiedersehen, vor denen sie sich jahrhundertelang versteckt haben. Der Zauber des Vergessens und der Zauber des Rattenfängers werden gleichzeitig gebrochen — keine Zeit mehr für Vorurteile und Ängste. Gargoyles und Menschen werden sich im roten Licht des Schicksalsmondes gegenüberstehen, und es wird keinen Hass mehr geben. Nun ...« Er lächelte. »Zumindest für den ersten Moment. Aber dieser Moment ist es, der zählt. In diesem Augenblick werden Menschen und Gargoyles erkennen, dass sie einander brauchen — und sie werden sich daran erinnern, wenn Furcht und Neid über sie kommen sollten, und gegen diese Gefühle gewappnet sein. Und für den Fall, dass die Gargoyles in Panik unüberlegt reagieren — der Notschalter liegt in meiner Hand. Aber ich bin sicher, dass sie sich auf Dauer mit einer geeinten Welt abfinden werden, mehr noch: Sie werden sie selbst errichten. Denn sie sehnen sich nach den Menschen und sie brauchen sie. Kein Leben in den Schatten mehr, kein heimliches Stehlen der Träume, sondern Freiheit. Und mit der Freiheit für Menschen und Gargoyles werden auch andere Völker endlich in Frieden leben können — wie wir, die Hybriden, bislang versklavt und aufgerieben zwischen den Fronten. Dann können wir ein Leben führen, das jenseits einer viehischen Existenz liegt.«
Mia umfasste die Lehne des Sessels fester. Sie spürte, wie ihr Bild, das sie sich von Seraphin gemacht hatte, Stück für Stück auseinanderbrach wie eine Sandfigur im Sturm.
»Deswegen brauche ich dich«, fuhr er fort. »Ich brauche das Zepter.«
Mia hörte Jakobs Stimme in ihrem Kopf:
Nur, wenn es freiwillig abgelegt wurde, konnte es von einem anderen aufgenommen werden.
Sollte Seraphin das Zepter mit Gewalt an sich bringen wollen, indem er sie tötete, würde er es vernichten.
»Nur mit ihm kann ich meinen Plan umsetzen«, fuhr Seraphin fort. »Wenn du es mir nicht gibst, ist er gescheitert.« Er lächelte ein wenig. »Aber ich glaube, dass deine Wünsche und Ziele sich nicht so sehr von den meinen unterscheiden, wie du bisher dachtest. Oder irre ich mich?«
Mia lachte verächtlich, aber ihre Stimme klang hoch und dünn, als sie antwortete: »Du weißt nichts von mir.«
Seraphin strich sanft über einen Buchrücken. »Ich weiß, dass dein Bruder nicht gestorben wäre, wenn der Zauber des Vergessens nicht bestehen würde. Manchmal zerbrechen die Dinge. Dinge, die man geliebt oder gehasst hat, Dinge, für die man sein Leben gegeben hätte — sie zerbrechen, einfach so. Und man steht vor den Scherben und sieht keinen Weg mehr. Ich kenne dich — weil ich mich kenne. Wir sind nicht so verschieden. Ich bin ein Hybrid. Du bist eine Hartidin. Auch du stehst zwischen den Welten — genau wie ich. Und auch du sehnst dich nach der Freiheit.«
Er sah sie an, sie wusste nicht, wie lange. Es fiel ihr schwer, seinen Blick zu erwidern. War es möglich, dass sie sich so in ihm getäuscht hatte? Er lächelte, als hätte er ihre Gedanken gehört.
»Ich glaube dir kein Wort«, sagte sie so ruhig wie möglich. »Du kannst mir viel erzählen. Wer weiß schon, was du in Wirklichkeit vorhast!«
In diesem Moment klopfte es an der Tür. Seraphin legte die Hand auf die Klinke. »Ich möchte, dass du die Dinge verstehst«, sagte er. »Es gibt mehr in dieser Welt als die Sichtweise der Menschen und Gargoyles — und oft ist das Böse in Wirklichkeit
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