Grim - Das Siegel des Feuers
sah die schwarzen Schleier, die sie als Strudel aus Finsternis mit sich rissen. Stöhnend öffnete sie die Augen und fand sich in einem Bett mit seidenen Kissen wieder. An der hohen Decke funkelten Kristalle, und auf den kostbaren Tischen und Anrichten, die überall im Zimmer standen, sah sie mehrere Schalen mit Obst und Körbe mit duftendem Brot. Auf einem Schränkchen neben der Tür lagen aufgeschlagene Bücher. Sie kam auf die Beine, zog die Vorhänge des Fensters beiseite und schaute auf die Dächer Ghrogonias. Die Erkenntnis überkam sie als eisiger Schauer: Sie befand sich im Schwarzen Dorn. Das Fenster war magisch gesichert, in blauen Flämmchen zog sich der Zauber über das Glas. Sie lief zur Tür und fand sie verschlossen. Gefangen. Grim hätte sie niemals eingesperrt, also konnte das nur eins bedeuten: Ihr schöner Plan war schiefgegangen. Grim hatte den Zweikampf nicht gewonnen. Stattdessen hatte Seraphin sie gefangen genommen. Aber aus welchem Grund? Warum hatte er sie nicht getötet und so auf leichte Weise die einzige Waffe zerstört, die ihm noch gefährlich werden konnte? Und was noch viel wichtiger war: Was war mit Grim? Hatte Seraphin ihn umgebracht?
In diesem Moment klopfte es an der Tür. Instinktiv stellte Mia sich hinter einen Sessel. Das Zepter, das sie mit ihrem Arm verschmolzen hatte, flammte in hellem Feuer. Ein Schlüssel drehte sich im Schloss, und Seraphin trat ein. Er war allein. Lautlos schloss er die Tür hinter sich und blieb neben dem Bücherschrank stehen. Seine Finger glitten über die Seiten eines Buches, als wären sie die Flügel eines zarten Schmetterlings.
»Du liest, nehme ich an?«, fragte er, ohne sie anzusehen. »Wenn dir diese Bücher nicht zusagen, werde ich andere bringen. Ich kann dir alles kommen lassen, was du willst.«
Mia stieß die Luft aus. »Wo sind meine Freunde? Was ist mit Grim? Wo ist Remis, der Kobold? Und was hast du mit Pedro gemacht?«
Seraphin hob den Kopf. »Ich habe sie besiegt«, sagte er leichthin. »Eure lächerlichen Zauberkunststückchen waren erfolglos. Ich verfüge über Kräfte, gegen die ihr nicht einmal den Hauch einer Chance hattet.« Er hielt kurz inne. »Der Gargoyle mischte sich ein, als ich eine alte ... Rechnung zu begleichen hatte. Er wurde verwundet, vermutlich schwer. Das lag nicht in meiner Absicht. Ich weiß nicht, wie es ihm geht. Ich kann ihn suchen lassen, wenn du es willst.«
»Ja«, sagte Mia sofort. »Ich will, dass du ihn suchst und dass ihm kein Haar gekrümmt wird, ist das klar?«
Sie spürte ihr Herz wie einen Dampfhammer in ihrer Brust, aber Seraphin nickte nur. »Ich werde alles Nötige veranlassen. Allerdings könnte die Suche eine Weile dauern, der Riss der Vrataten ist nicht ungefährlich.«
Mia fröstelte, als sie an die Drudenkönigin und ihre Schergen dachte, doch Seraphin sprach schon weiter. »Von einem Kobold weiß ich nichts, und Pedro von Barkabant ...« Er verzog das Gesicht zu einer Grimasse, als er den Namen aussprach. »Pedro von Barkabant ist tot.«
Mia stieß verächtlich die Luft aus. »Du bist ein Mörder.«
»Ja«, sagte er leise. »Das bin ich. Ich weiß, dass du mir die Schuld gibst am Tod deines Bruders. In gewisser Weise trage ich diese Schuld. Doch es lag nie in meiner Absicht, dass er stirbt — und ich bestrafte den, der dafür verantwortlich war. Er hat gelitten, bevor er starb, dessen kannst du gewiss sein.«
Mia wehrte sich nach Kräften gegen die Gewissheit, die in diesem Moment in ihr wuchs. Aber in Seraphins Blick lag etwas, das keinen Zweifel zuließ: Er sagte die Wahrheit.
»Ich glaube dir kein Wort«, zischte sie dennoch. »Du willst die Menschheit versklaven, du machst die Gargoyles willenlos, damit sie nach deiner Pfeife tanzen! Du willst die ganze Welt in den Untergang treiben, weil du von Hass und Rache geleitet wirst!«
Seraphin lächelte ein wenig. »Es war nie meine Absicht, Rache zu üben. Rache ist töricht, ebenso wie Hass. Und was meine Pläne betrifft: Ich will die Menschen nicht versklaven, im Gegenteil: Ich will sie befreien.«
Diese Worte klangen aus Seraphins Mund so absurd, dass Mia auflachte. Doch Seraphin sah sie mit einem Ernst an, der sie frösteln ließ. Das Gespräch nahm eine Wendung, die sie nicht erwartet hatte. Sie krallte die Finger in die Sessellehne, bis ihre Knöchel weiß hervortraten.
»Fragst du dich nicht, warum ich das Zepter nicht zerstört habe?«, fragte er scheinbar beiläufig. »Das hast du doch erwartet, oder etwa nicht?«
Mia
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