Grim - Das Siegel des Feuers
war fast nichts mehr zu hören. Mia schien es, als wäre sie in eine Welt der Stille eingetaucht, von Kalkstein umhüllt wie von einer Schutzschicht.
Jetzt, da sie die Ratten und den Gestank hinter sich gelassen und trockenen Grund unter den Füßen hatten, überkam sie beinahe so etwas wie Abenteuerlust.
»Warum erst jetzt«, fragte sie, nachdem sie eine Weile schweigend hintereinander her gelaufen waren. »Warum habe ich es erst jetzt gemerkt?«
Jakob duckte sich unter einem querlaufenden Rohr, aus dem zähe Tropfen in den Gang fielen. »Mit der Magie ist es so eine Sache. Die meisten Hartide in unserer Welt wissen gar nicht, dass sie über Magie gebieten, oder sie ahnen es und haben Angst davor — in beiden Fällen müssen Barrieren überwunden werden, um die Magie freizusetzen. Es ist wie ... ein Tor, das geöffnet werden muss. Erinnerst du dich an die Teestunde vor ein paar Wochen?«
Mia nickte. In der Tat erinnerte sie sich daran. Jakob hatte aus irgendeinem Land am anderen Ende der Welt Teesorten bestellt und sie mit ihr getestet — sie hatten allesamt scheußlich geschmeckt.
Jakob lachte über ihr angeekeltes Gesicht und fuhr fort: »Nun ja, in Wahrheit handelte es sich dabei nicht wirklich um Tee. Es war ein Zauber, ein Ritual, das ...«
Mia riss die Augen auf und starrte ihren Bruder entgeistert an. »Du hast mich verhext?«
»Ich habe deine Magiefähigkeit getestet. Auf dem Polizeirevier hat sich vermutlich eine Vorstufe dessen gezeigt, was dann auf dem Friedhof ausgebrochen ist. Ehrlich gesagt, habe ich nicht mehr damit gerechnet, dass du überhaupt magiefähig bist — aber offenbar hat das heutige Datum mehr bewirkt, als ich gedacht habe. Hätte ich das geahnt! Ich hätte dich niemals allein durch die Gegend laufen lassen.«
Mia nickte nachdenklich. »Ja ... Nach der Teestunde bist du tagelang kaum von meiner Seite gewichen.«
Jakob lachte leise. »Ich habe jeden Moment damit gerechnet, dass du den Vogel von Tante Josi in Brand setzt oder den Kühlschrank zum Laufen bringst.«
»Und diese ... diese Wesen, die ich gesehen habe?«
»Wie haben sie ausgesehen? Du hast von einer Zombiehorde gesprochen.« Er grinste, und Mia erzählte in knappen Worten von den Wesen, die ihr auf dem Friedhof erschienen waren. Ein Lächeln stahl sich in Jakobs Blick, dieses Lächeln, das ihr deutlich zeigte, dass er mal wieder mehr wusste als sie. »Es gibt mehr als eine Wirklichkeit«, sagte er schließlich. »Und es gibt mehr als eine Welt. Manche sind weit von unserer entfernt, andere sind uns ganz nah und gleichzeitig unerreichbar. Und einige wenige befinden sich direkt vor unserer Nase, ohne dass wir sie auch nur erahnen würden, obwohl wir sie betreten könnten. Eine dieser Welten ist die Welt der Feen — das Feenland. Es gibt Geschichtenerzähler, die behaupten, dass jeder Funke Phantasie, jede Idee und jeder reine Gedanke im Feenland geboren wird. Sie sagen, es sei das Land der grenzenlosen Zauberei. Jedes Mal, wenn du deine Magie benutzt, bist du dem Feenland ganz nah — und wenn du Glück hast, kannst du einen Blick hineinwerfen. Dann siehst du ihre Geschöpfe — und sie sehen dich. Manche verbergen sich vor uns, andere warten auf uns. Die Feen sind uralte Wesen, älter als diese Welt und manche andere, und seit jeher haben sie eine besondere Beziehung zu den Menschen.«
Deutlich sah Mia die Wesen auf dem Friedhof vor sich.
Das
sollten Feen sein? Bisher hatte sie ihre Feendefinition Märchen wie Dornröschen entnommen, was vielleicht naiv war — aber dass ihre Vorstellung so weit von der Wahrheit entfernt lag, hätte sie sich nicht träumen lassen. Sie schwieg und hörte geistesabwesend auf das schmatzende Geräusch, das ihre Schuhe bei jedem Schritt auf dem inzwischen wieder feuchten Boden veranstalteten.
»Es hat einen Grund, warum ich herausfinden musste, ob du eine Hartidin bist oder nicht«, sagte Jakob leise. »Es kann gefährlich sein, die Magie von jemandem freizusetzen, der das nicht will oder der von seinen Kräften nichts ahnt. Und ich hätte es nicht getan, wenn ich eine andere Möglichkeit gesehen hätte. Denn es bedeutet Einsamkeit, ein Hartid zu sein — ein Seher unter Blinden. Aber hier geht es um mehr als uns beide, Mia, um viel mehr.« Er holte Atem. »Mir ist etwas anvertraut worden, etwas, das niemals in die falschen Hände geraten darf. Es ist ein ... Relikt von großer Macht — größer, als ich erahnen kann. Und meine Aufgabe ist es, es zu beschützen. Aber das kann ich
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