Grim - Das Siegel des Feuers
Appetit.«
Mia lächelte gezwungen und meinte, ein teuflisches Flackern in den Augen des Hundes zu bemerken. Schnell wandte sie sich ab und sah, dass Jakob die Erde rund um einen Gullydeckel entfernt hatte. Jetzt legte er beide Hände darauf. Eine leuchtende blaue Flamme hüpfte über seine Finger und lief einmal im Kreis über den Rand des Gullys. Ein leises Knirschen erklang, dann hob Jakob die Hände und beförderte den Deckel mühelos beiseite.
»Nach dir«, sagte er grinsend und deutete auf die rostige Leiter, die irgendwo in der Dunkelheit des Schachts verschwand. Einen Moment zögerte Mia. Dann ließ sie sich an den Rand des Gullys sinken, umfasste die Leiter und stieg mit angehaltenem Atem hinab. Schnell erreichte sie den Boden und hörte das Wasser, das nicht weit von ihr durch den Kanal lief. Dann holte sie Atem — und musste feststellen, dass es sich keineswegs um Wasser handelte, jedenfalls nicht nur.
»Wir sind in der Kanalisation«, stellte sie fest, als Jakob den Deckel wieder auf den Schacht geschoben hatte und neben ihr stand. Ein winziges gelbes Licht tanzte über seiner Hand, erhob sich in die Luft und erhellte den Tunnel.
»Ja«, erwiderte er mit einem Gesicht, als wäre er in einen Berg Schokolade gefallen. »Es gibt noch andere Eingänge zu den Katakomben, aber ...«
Mia riss die Augen auf. »Die Katakomben!«
Jakob lächelte. »Du weißt doch, was Hugo gesagt hat: Der
Untergrund von Paris, könnte das Auge durch seine Oberfläche dringen, würde den Anblick einer riesenhaften Buschkoralle bieten.«
Mia wusste, dass das stimmte. Allein das System der Pariser Kanalisation erstreckte sich auf über zweitausend Kilometern durch die Eingeweide der Stadt, und weit darunter in einer Tiefe von bis zu fünfunddreißig Metern lagen die Carrieres — die unterirdischen Steinbrüche von Paris. Aus ihnen stammte ein Großteil des Baumaterials, mit dem die Stadt einst errichtet worden war, und sie hatten den Bauch der Stadt ausgehöhlt wie ein kariöses Gebiss. Unzählige Legenden rankten sich um den Untergrund von Paris, was sicher auch daran lag, dass ein Teil der Steinbrüche seit 1785 als Nekropole diente. Zahlreiche Pariser Friedhöfe waren zu jener Zeit überfüllt gewesen und hatten die Stadt in entsetzliche Ausdünstungen gehüllt, bis mehrere Begräbnisstätten geschlossen und Leichen in die Steinbrüche überführt worden waren. Insgesamt sollte es sich dabei um etwa sechs Millionen Menschen gehandelt haben. Eines Tages hatte man die menschlichen Überreste geordnet, sie als Ziermauern aus Knochen an den Wänden der Stollen aufgetürmt und für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Mehrfach hatte Mia diese aufeinandergeschichteten Gelenkknochen, Schädel und Schienbeine bereits besichtigt. Viel interessanter jedoch waren für sie immer schon jene Bereiche der Katakomben gewesen, zu denen der Zutritt streng verboten war. Denn nicht alle Gebiete der Steinbrüche waren vollständig erfasst, und die unbekannten Schattenreiche boten viel Raum für Mythen und unheimliche Geschichten. Mia kannte einige Leute aus den Reihen der sogenannten Kataphilen, die sich leidenschaftlich gern in den verbotenen Teilen der Steinbrüche aufhielten.
»Ich bin dort unten mal auf einer Party gewesen«, sagte sie. »Aber soweit ich weiß, hat die Polizei alle Gullydeckel verplombt, und andere Eingänge gibt es nur noch wenige.«
Jakob nickte. »Zum Glück sind wir, auch was das betrifft, nicht auf gewöhnliche Wege angewiesen.« Er deutete den Tunnel hinab. »Ein Stück geradeaus und dann links.«
Es stank bestialisch, und die Ratten, die mit schmutzverkrustetem Fell durch die Kloake schwammen, machten das Ganze auch nicht besser. Immerhin gab es jeweils einen schmalen Weg rechts und links von dem Strom, der durch den Tunnel geleitet wurde, aber auch dort war alles matschig, und Mia ging jede Wette ein, dass sie gerade nicht nur auf Sand und Erde herumlief. Sie war heilfroh, als Jakob vor einer Wand stehen blieb. Er berührte einen glitschigen Stein und schloss konzentriert die Augen. Der Stein verfärbte sich erst violett, dann rot, und ein Knacken ging durch den Tunnel, als würde irgendwo ein Riegel zurückgeschoben.
Fasziniert sah Mia, dass sich die Wand dort, wo Jakob stand, in flirrendes Licht verwandelt hatte. Ohne zu zögern, ging Jakob mitten hinein. Mia folgte ihm. Sie fühlte ein Prickeln auf ihrem Gesicht und fand sich im nächsten Moment in einem niedrigen Gang der Katakomben wieder. Auf einmal
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