Grim - Das Siegel des Feuers
Bewegung das Laken von dem Bild, das an der Wand lehnte. Es steckte in einem schmucklosen Rahmen und war vollständig mit grauer, leicht glitzernder Ölfarbe bemalt. Jakob rückte zwei Schemel vor das Bild und forderte Mia auf, sich neben ihn zu setzen.
»Vieles von dem, was ich dir erzählen werde, wird wie ein Märchen für dich klingen«, sagte er. »Es ist schwer, wissenschaftliche Fakten über die Anderwelt zu sammeln, in der wir uns nun befinden — eine Welt, der unsere Art von Wissenschaft fremd und die mir selbst immer noch ein schillerndes Rätsel ist.«
Mia lächelte ein wenig. »Ich habe Märchen schon immer gemocht.«
Jakob erwiderte ihr Lächeln. »Dieses Bild wird mir helfen, dir alles zu erzählen. Lucas hat es gemalt, und es zeigt ... Bilder, wenn Worte versagen.« Er murmelte etwas und berührte die Leinwand mit dem Zeigefinger. Ein roter Funke sprang auf die graue Farbe. Mia riss die Augen auf, als sie sah, dass sich das Grau bewegte. Wie zäher Nebel begann es, sich auf und ab zu wälzen. Farben mischten sich hinein, sie umschmeichelten einander und wiegten Mia in einen angenehmen Dämmerzustand. Wie von Ferne hörte sie Jakobs Stimme.
»Das Märchen beginnt in der Ersten Zeit — als die Menschen noch wussten, dass es Feen und Irrlichter gibt, und die Welten noch nicht auseinandergerissen waren wie in diesen Tagen. Es beginnt mit der Geschichte der Gargoyles.«
Da riss der Nebel auseinander und gab den Blick frei auf einen dunklen, mit glitzernden Kristallen durchsetzten Felsen. Ein zarter, kühler Duft ging von ihm aus, wie der Geruch von Schnee in einer klaren Winternacht. Staunend sah Mia zu, wie sich langsam aus dem Felsen die Konturen eines Gesichts herausbildeten — die Züge eines Gargoyles. Wieder spürte sie das kühle Gefühl der Ehrfurcht, das sich bei diesem Anblick um ihre Schultern legte. Und als hätten ihre Gedanken den Befehl dazu gegeben, öffnete der Gargoyle in diesem Moment die Augen. Mia fuhr zurück, denn er sah sie direkt an, sah sie an aus glühenden schwarzen Augen — und lächelte. Sie streckte die Hand nach ihm aus, sie konnte nicht anders. Da war keine Leinwand mehr. Ungehindert tauchten ihre Finger in die Welt des Bildes ein. Vorsichtig berührte sie die Wange des Gargoyles. Seine Haut fühlte sich an, als würde flüssiges Gold darunter fließen.
Sie hörte Jakobs Stimme wie ein Flüstern neben ihrem Ohr. »Niemand weiß, woher sie gekommen sind, nicht einmal sie selbst. Manche Mythen sagen, dass sie als steinerne Klumpen auf die Erde geschleudert wurden von den Göttern der Ersten Zeit. Andere berichten von fernen Welten, in denen sie einst zu Hause waren und die sie vor langer Zeit verließen. Und in vielen Geschichten ist ihre Vergangenheit eng mit der unsrigen verknüpft. So, wie das Christentum unsere westliche Welt geprägt hat, zieht sich eine Legende durch die Anderwelt, von der niemand mehr sagen kann, ob sie wahr ist oder nicht. Ich möchte sie dir erzählen, wohl wissend, dass es mehr als eine Wahrheit gibt. Nach ihr wurden die Gargoyles von einem Engel erschaffen — einem gefallenen Engel.«
Kaum hatte Jakob das letzte Wort ausgesprochen, wurden die Augen des Gargoyles dunkler. Schwarze Schatten loderten in ihnen wie züngelnde Flammen. Er lächelte in leisem Spott, und ein Name glitt über seine Lippen, lautlos und kühl. Mia zog die Schultern an, auf einmal war ihr kalt.
»Luzifer«, wiederholte sie. Sie wollte sich abwenden, die Kälte von ihrem Körper schütteln, aber der Blick des Gargoyles hielt sie fest.
»Aus Stolz weigerte er sich, sich vor den Menschen zu verneigen«, fuhr Jakob fort. »So wurde er aus dem Himmelreich verbannt. Nach seinem Sturz beschloss er in seinem Hochmut, Gottes Schöpfung in den Schatten zu stellen. Und er erschuf die Gargoyles — unsterblich, magiefähig und wunderschön. Doch seine Geschöpfe besaßen einen Makel: Sie waren unfähig zu träumen. Und so waren sie zu einer Existenz jenseits des Lebens verdammt, die in einem qualvollen Tod enden musste. Denn kein lebendiges Wesen kann ohne Träume gesund bleiben. Wir in der Oberwelt haben inzwischen sogar wissenschaftliche Erklärungen dafür.«
Mia hielt den Atem an. Die gerade noch glatte Haut des Gargoyles zog sich zusammen. Sein Blick wurde trübe, und sein Gesicht verdunkelte sich zu einem sterbenden Grau. Die flammenden Schatten in seinen Augen erloschen. Schließlich verdeckte ihn der Nebel, der mit wütenden Bewegungen vom Rand des Bildes auf die
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