Grim - Das Siegel des Feuers
über mein Volk eilen uns meistens voraus, und oft stimmen sie auch. Na ja, also ich verdingte mich früher als Taschendieb und brauchte eigentlich ständig Geld. Jedenfalls begegnete ich eines Tages einem Menschen, das heißt, ich beobachtete ihn heimlich, wie er mitten im Wald herumsaß und eine Elfenwohnung zeichnete. Für ihn, so dachte ich damals, war sie natürlich nur ein Pilz, aber egal. Ich hatte gerade beschlossen, ihn um seine Tasche zu erleichtern, in der ich allerhand Kostbarkeiten vermutete — als ich merkte, dass ich beim Anschleichen in heimtückischen Morast geraten war, der mich in raschem Tempo einsog wie ein Riese eine Fliege. Nun, wir Gnome sind zwar stark, aber so stark nun auch wieder nicht, dass ich mich an den eigenen Haaren dort hätte herausziehen können. Ich schrie wie am Spieß, der Mensch fuhr herum und riss mich wie eine gepflückte Blume aus dem Morast. Keuchend lag ich am Boden und bemerkte erst nach einer Weile, dass er mich ansah.
Moment mal,
entfuhr es mir.
Du kannst mich sehen?
Denn natürlich ging ich davon aus, dass er mich wie alle Menschen für einen Wildschweinfindling oder eine besonders fette Wildkatze hielt. Tat er aber nicht. Er konnte mich
sehen.
Er war ein Hartid.«
Mia ließ sich auf einen Schemel sinken. »Immer wieder hat Lucas die Geschichte von dem Gnom mit den gelben Augen erzählt, dem er das Leben gerettet hat, so oft, bis ich jedes Wort auswendig kannte. Aber ich hätte nie gedacht, dass ...« Sie stockte.
Vraternius lächelte traurig. »Dass die Geschichte wahr sein könnte? Nun, sie ist wahr. Und sie endet nicht bei dem verdatterten Gnom im Wald. Denn man mag von uns sagen, was man will: Wir sind ehrenhafte Geschöpfe, und wenn wir bei jemandem in der Schuld stehen, wissen wir, was das heißt. Von diesem Moment an gehörte mein Leben ihm, bis zu dem Zeitpunkt, da ich ihm meine Rettung vergelten konnte. Doch das konnte ich nie ...« Sein Blick glitt zu Boden, und er wischte sich kurz über die Augen, ehe er fortfuhr. »Nun ja, Lucas lachte damals herzlich über mein dummes Gesicht, und wir verstanden uns prächtig. Und da sich gerade keine Gelegenheit bot, ihm ebenfalls das Leben zu retten, verschaffte ich ihm als Dank für meine Rettung die Möglichkeit, seiner Beschäftigung — dem Zeichnen von Anderwesen — dort nachzugehen, wo seine Motive quasi nie versiegen würden: hier, in Ghrogonia.« Er breitete die Arme aus und ließ den Blick durch das Atelier schweifen. »Natürlich war es gefährlich, es hätte uns beiden an den Kragen gehen können, wenn sie uns erwischt hätten.« Ein spitzbübisches Funkeln ging durch seine Augen. »Haben sie aber nicht. Und so kam er oft hierher, lief als Waldschrat verkleidet durch die Stadt und malte anschließend, was er gesehen hatte.« Vraternius hielt inne. »Ich habe alles so gelassen, wie es war, als er zum letzten Mal hier war. Hier unten ist es, als wäre er gar nicht weggegangen.«
Mia schaute auf das Bild auf der Staffelei, aber sie sah es nicht. Lucas tauchte vor ihr auf, Lucas mit dem halb geneigten Kopf und seinen rauen Händen, die immer voll mit Farbe gewesen waren, sie sah seine Augen mit den Lachfalten und den Mund, mit dem er ihr unzählige Geschichten erzählt hatte. Sie sah Lucas, wie er weinte, zusammengesunken in einer Ecke seines Ateliers, Lucas im Gras, er hatte ihr Himbeeren auf einen Grashalm gezogen, war das wirklich passiert oder hatte sie es nur geträumt? Lucas im Gehen, immer wieder, den Blick halb zurück, die Füße vorwärts, Schritt für Schritt fort von ihr. Und dann Jakobs Gesicht vor seinem Sarg, die Tränen in seinen Augen und der Knoten, der im gleichen Moment in Mia gewachsen war, hart und kalt wie ein Gebilde aus Eis. Sie schluckte und musste sich räuspern, so heiser war sie auf einmal.
»Ja«, sagte sie. »Als wäre er gar nicht weggegangen.«
Eine Weile war es still. Mia sah aus den Augenwinkeln, wie Vraternius aufstand und das Zimmer verließ. Dann spürte sie Jakobs Hand auf ihrem Arm.
»Lucas hatte recht«, sagte er leise. »Er wusste von der verborgenen Welt unter unseren Füßen. Doch niemand hat ihm geglaubt. Sie hielten ihn im besten Fall für einen durchgeknallten Künstler, im schlechtesten für geisteskrank. Aber ...« Er hielt inne und wartete, bis sie ihn ansah. Dann wiederholte er die Worte: »Er hatte recht. Die Welt, in der wir leben, basiert auf einer Lüge. Es wird Zeit, dass du die Wahrheit erfährst.«
Er erhob sich und zog mit einer schnellen
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