Grim - Das Siegel des Feuers
heraus. »Hier, er hat es uns doch gesagt. Habe ihn neulich unterm Kühlschrank gefunden, beim Saubermachen. Hab wohl vergessen, ihn zurückzuhängen.« Sie legte ihn auf den Tisch, wie gebannt starrte Mia darauf.
Ihre Mutter nahm ihn in die Hand, ihr Gesicht entspannte sich zusehends. »So was«, murmelte sie leise. »Ich hätte schwören können ...«
Josi lachte. »Ja, so ist das mit dem Alter, was?« Sie warf Mia einen Blick zu. »Ich bin gespannt, was er alles zu erzählen hat, wenn er wieder da ist.«
Mia bemühte sich, sich nichts anmerken zu lassen. Aber in ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Woher kam dieser ominöse Zettel auf einmal? Jakob hatte ihn nicht geschrieben, so viel stand fest. Es musste Tante Josi gewesen sein, aber warum hätte sie das tun sollen?
Ihre Mutter seufzte leise. Dann strich sie Mia eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Wir sind schon eine seltsame Familie. Eine Tierflüsterin, ein Grufti, ein Verschollener — und eine Alte, deren Socken nie zusammenpassen.« Sie wackelte mit den Zehen in ihren Sandalen und verzog das Gesicht — tatsächlich trug sie eine grüne und eine gelb-rot gestreifte Socke.
Mia zwang ein Lächeln auf ihre Lippen. »Dann haben die alten Leute immerhin ein bisschen Farbe in ihrem Leben.«
In diesem Moment unterbrach sie das schrille Klingeln des Telefons. Mia ging an den Apparat.
»Hallo?«, sagte sie und lauschte.
Sie hörte ein Keuchen und Stimmengewirr, doch niemand sagte etwas.
»Hallo? Wenn das ein perverser Anruf sein soll, ist er ziemlich mies.« Sie wollte auflegen, doch Jakobs Stimme hielt sie davon ab.
»Wer ist da?«, flüsterte er so leise, dass sie ihn kaum verstand. »Sag nicht meinen Namen!«
Mia drehte sich zu Josi und ihrer Mutter um, doch die waren in der Küche beschäftigt. »Ich bin es, Mia«, flüsterte sie zurück. »Wo bist du?«
Wieder hörte sie Stimmen und das Hupen von Autos. Sie presste den Hörer an ihr Ohr.
»Komm zum Gare du Nord«, sagte Jakob gehetzt. »Zur Laterne zwischen dem elften und zwölften Gleis.« Ein Knacken im Hörer, dann war die Leitung tot.
Verwirrt legte Mia auf. Ein Frösteln kroch ihr über den Rücken. Seine Stimme hatte fremd geklungen, fast hätte sie ihn nicht erkannt. Sie zog die Schultern an.
»Ich geh noch mal weg«, rief sie in betont unbekümmertem Ton, schnappte sich ihren Mantel und war aus der Tür. So schnell sie konnte, lief sie die Straße hinab, sprang in die Metro und erreichte nach endlosen Minuten den Gare du Nord. Es war Feierabendzeit, die Pendler drängten sich an ihr vorbei, als sie an der Laterne stehen blieb. Die Gedanken in ihrem Kopf überschlugen sich. Warum wollte Jakob sich gerade hier mit ihr treffen? Er hasste die Menschenmassen ebenso wie sie selbst. Wollte er nicht mit ihr allein sein? Was, wenn er wieder verfolgt worden war? Warum sonst hatte er so gehetzt geklungen, so müde, so fremd?
Unruhig trat sie von einem Bein aufs andere. Menschen liefen an ihr vorbei und standen in langen Schlangen vor den Kiosken. Blechern dröhnte eine Lautsprecheransage durch die Halle. Endlich sah sie Jakob im Gewühl — und erschrak. Sein Haar war strähnig und hing ihm wirr ins Gesicht, seine Augen waren rot gerändert, als hätte er seit Tagen nicht geschlafen, und seine Wangen waren eingefallen und aschfahl. Er sah aus wie ein Toter, als er auf sie zustolperte. Nur sein Lächeln hinderte sie daran, vor ihm zurückzuweichen.
»Mia, Gott sei Dank!«, flüsterte er und zog sie an sich.
Sie spürte, wie die Angst ihr die Kehle zuschnürte. »Jakob, was ist passiert?«
»Hör mir zu«, hörte sie seine Stimme an ihrem Ohr. Seine Lippen waren kalt, sie fühlte, dass er zitterte. »Ich werde verfolgt, daher kann ich nicht lange bleiben. Ich habe versucht, sie abzuhängen, aber ... ich weiß nicht, was sie sind, aber sie sind stark. Verflucht stark sogar. Erinnerst du dich an das Paket? Das, was ich dir im Atelier gezeigt habe?«
Sie nickte.
»Es darf niemals in falsche Hände geraten, hörst du, niemals. Die, die hinter mir her sind, wollen es haben, sie jagen mich schon seit Tagen, aber sie werden mich nicht bekommen. Niemals. Nimm es«, Mia spürte, wie er ihr etwas in die Manteltasche schob. »Gib gut darauf acht, Mia, erzähle niemandem davon! Sie dürfen nie von dir erfahren. Wenn sie wissen, dass du es hast, bist du verloren, genauso wie ich, verstehst du?«
Mia nickte wieder, obwohl sie gar nichts verstand.
»Ich werde versuchen, sie abzuschütteln«, fuhr er
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