Grim - Das Siegel des Feuers
und ihr Lachen klang heiser zu ihm herüber. Noch immer hatte er keine Ahnung, wer sie waren. Zu den Rebellen gehörten sie jedenfalls nicht. Den Berichten zufolge waren sie einfach in die Sammelstation spaziert, hatten mal eben einem Gargoyle den Kopf weggepustet und nebenbei die gesamte Station in die Luft gesprengt. Diese Hybriden interessierten sich überhaupt nicht dafür, ob sie gesehen wurden oder nicht. Andererseits waren sie vor den Truppen der OGP geflüchtet. Und die klare Hierarchie, der sie offensichtlich unterstanden, war zusätzlich außergewöhnlich. Grim zog die Brauen zusammen, als er an Seraphin dachte. Es war nicht unüblich, dass man bei einer Erinnerungslesung in Trance verfiel, aber diese Vision, die er erlebt hatte, war so echt gewesen ... Und seine Narbe ... Er hatte nie erfahren, wer sie ihm zugefügt hatte. War es wirklich Seraphin gewesen? Aber warum konnte er sich nicht an ihn erinnern? Grim stieß die Luft aus. Er musste sich zusammenreißen. Hier ging es nicht um ihn.
Denn eines wusste er genau: Diese Kerle wollten den Jungen. Unablässig und starr wie eine Klaue aus Eisen hatten sie sich um sein Leben geschlungen und warteten auf den Moment, in dem sie zudrücken würden. Sie wollten das Pergament mit dem Siegel des Feuers, da ging Grim jede Wette ein. Doch der Junge machte es ihnen nicht leicht. Zwei Tage nach der kleinen Sprengaktion in der Sammelstation war er von ihnen entdeckt worden, sie hatten ihn verfolgt, aber irgendwie war er immer wieder entkommen, hatte seinen Kopf aus der Schlinge gezogen und war nun seit einigen Tagen verschwunden. Am Ende war er nachlässig geworden, fahriger, er schien erschöpft zu sein, ausgezehrt wie ein verwundetes Reh, das von Wölfen gehetzt wurde.
Grim stieß die Luft aus. Aber er war nicht allein. Er hatte ja seinen großen, unbekannten, steinernen Beschützer, der nichts lieber tat, als in der Kälte zu hocken und seine potenziellen Mörder zu beobachten.
Gib auf ihn acht,
hatte Moira gesagt.
Mit düsterer Miene schaute Grim zu den beiden Gestalten hinüber. Ein merkwürdiges Gefühl glomm in seiner Brust, seit er sie zum ersten Mal gesehen hatte, ein Gefühl wie — er zögerte, als sich das Wort in seinen Gedanken formte. Ein Gefühl wie Angst.
Das Zischen steinerner Schwingen zerriss die Luft. Schnell duckte Grim sich tiefer in die Schatten und beobachtete, wie drei Hybriden auf dem gegenüberliegenden Dach landeten. Sie redeten schnell und aufgeregt und erhoben sich umgehend wieder in die Luft.
Grim zögerte nicht. Eilig flog er ihnen nach, lautlos und unbemerkt. Sie hatten erst wenige Straßenzüge hinter sich gelassen, als er acht Hybriden vor sich ausmachte. Sie sammelten sich auf einem Häuserdach und wandten ihre Blicke hinab zur Straße.
Grim atmete ein. Dort stand eine menschliche Gestalt, sie trug halb zerrissene Kleidung und stützte sich schwer atmend an der Häuserwand ab. Es war der Junge. Sie hatten ihn gefunden. Aber war das wirklich noch derselbe Junge, den Grim vor wenigen Tagen in Ghrogonia in Verkleidung gesehen hatte? Jede Farbe war aus seinem Gesicht gewichen, seine Haut spannte sich wachsbleich über seinen Wangenknochen, seine Lippen waren aufgesprungen und bluteten, und seine Augen waren nur noch zwei dunkle schwarze Seen voller Müdigkeit und Verzweiflung.
Kaum hatte Grim ihn erkannt, stießen sich die ersten Hybriden vom Dach ab und schossen auf ihn nieder. Panisch fuhr der Junge herum, zog mit bebenden Lippen die rechte Hand durch die Luft und wurde im nächsten Moment in eine stinkende Schwefelwolke gehüllt. Ein Hybrid stürzte sich in den Nebel, aber der Junge war verschwunden. Da hörte Grim seine Schritte, am Ende der Straße bog er um eine Ecke. Sein Atem ging stoßweise, Grim hörte es deutlich. Der Junge war am Ende.
Doch er rannte, so schnell er konnte, und als die Hybriden und Grim die Rue Beautreillis erreichten, in die er eingebogen war, sahen sie ihn vor einem uralten Tor stehen bleiben. Es erhob sich halb zerfallen vor einem Klotz mit Neubauwohnungen. Das Holz des Tores war mit Graffiti übersät, und darüber stand in verwaschenen Lettern: Hôtel Raoul. Das Haus, das einmal dahintergestanden hatte, war schon vor langer Zeit abgerissen worden, nur das Tor war geblieben — wie ein Weg in eine andere Welt stand es vor den Neubauten. Grim kannte dieses Portal, denn nichts anderes war es. Es führte in einen Raum zwischen der Zeit, in eine Nische voller Zwielicht — in eine Zwischenwelt.
Grim
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