Grim
ihr Lächeln. »Nach und nach werdet ihr lernen, mit euren Fähigkeiten umzugehen. Ich werde euch dabei helfen, genauso wie Theryon und … «
Da hob Lyskian kaum merklich den Kopf. Er lauschte, die Anspannung in seiner Haltung ließ Mia verstummen. »Wir nähern uns dem Ziel«, sagte er und bedachte die Hartide mit einem Blick. »Ereignisse wie diese werden sich häufen, doch seid ohne Furcht.«
Dunkel brandete die Moldau zu ihnen herauf, und wie eine Antwort auf Lyskians Worte schlug ihnen plötzlicher Wind entgegen, kalt wie in Herbststürmen über dem Meer. Mit rauer Hand zerriss er den Nebel auf den Gassen und wirbelte den Sand der Häuser umher, so dass Mia für einen Moment nichts mehr sah als tanzende Schleier. Sie zog sich den Umhang enger um den Leib, der Wind zerrte an ihren Haaren und drängte den Sand zurück, der sich zu beiden Seiten der Straße zu himmelhohen Türmen aufbaute. Erst auf den zweiten Blick erkannte sie, dass es riesige Aktenschränke waren, die dicht an dicht die Gasse säumten. Sie wollte sich zu den anderen umwenden, aber sofort schlug ihr der Wind ins Gesicht und trieb sie weiter, während die Schränke immer dichter zusammenrückten. Der Wind wurde lautlos, und sie hörte nichts mehr als ihre eigenen Schritte, die unheimlich in dem langen Gang widerhallten, zu dem die Gasse geworden war. Der Himmel hingegen flackerte, er wurde weiß wie eine Projektorleinwand, und sie erschrak, als Gesichter darauf erschienen, menschliche Gesichter, die auf sie niederstarrten. Ein Flüstern drang aus den Aktenschränken, es wurde zu Worten, die Mia nicht deuten konnte.
Es hilft nichts.
Eine Tür öffnete sich in einem der Schränke, Männer in Anzügen traten auf die Straße, die alle gleich aussahen. Sie trugen graue, starre Mienen zur Schau, die so beliebig waren, dass Mia ihre Züge umgehend vergaß. Sie hielten Aktenkoffer in den Händen, in seltsamer Mechanik schauten sie auf die Uhr und liefen Mia entgegen, ohne sie zu beachten, und obgleich nur der Windzug ihrer Körper sie streifte, wurde sie von dieser Berührung zurückgeworfen wie durch einen heftigen Stoß. Sie taumelte, aber mit jedem Schritt, den sie beiseitewich, traten weitere Menschen auf die Straße, Männer in uniformen Anzügen und Frauen, deren Lippen in einem so grellen Rot bemalt waren, dass ihre Haut noch grauer wirkte, fast so, als wären sie hinter der Maske ihrer Kostüme und Aktenkoffer gar nicht da.
Die Lüge wird zur Weltordnung gemacht.
Wie Puppen folgten sie einer anonymen Macht, einem unsichtbaren Gesetz, das Mia nicht durchschauen konnte, und je stärker sie versuchte, gegen den Strom voranzukommen, desto kälter wurde der Wind, der ihr entgegenschlug. Grau türmte sich das Ende der Straße vor ihr auf, es erschien ihr wie ein Meer, das jederzeit über das Pflaster hinwegbrechen konnte und es doch niemals tat, und noch ehe sie die Beklemmung benennen konnte, die sich von diesem Bild auf sie übertrug, hörte sie wieder die Stimme.
Eine Bewegung ohne Ende, eine Unruhe, übertragen von dem unruhigen Element auf die hilflosen Menschen und ihre Werke!
Die Schatten der Schranktürme glitten bedrohlich über Mia hinweg, unheimlich schoben sich die bleichen Totengesichter der Menschen an ihr vorüber, umweht von diesem grausamen, eisigen Hauch, der Mia voller Spott durchs Haar fuhr, und sosehr sie sich gegen die Angst wehrte, die nun von ihr Besitz ergriff, desto hilfloser fühlte sie sich in dem Strudel aus Leibern, in den sie geraten war. Überdeutlich hörte sie das Schlagen von Türen, das Klingeln eines Telefons, es war, als hätte sie den Hörer abgenommen, und wieder drang die Stimme durch ihre Gedanken.
Wie stellst du dir das Ende vor?
Pause.
Mia spürte ihren Herzschlag in dem Hörer widerhallen, die Frage wiederholte sich, und die Antwort, die nicht die ihre war, drang aus den Schränken und verfolgte sie wie ein raunender Fluch.
Früher dachte ich, es müsse gut enden, jetzt zweifle ich daran manchmal selbst. Ich weiß nicht, wie es enden wird. Weißt du es?
Das Klacken des Hörers auf der Gabel ließ Mia zusammenfahren, es schien ihr, als wäre sie in einen Irrgarten geraten, der nur dazu da war, sie scheitern zu lassen oder schlimmer noch: der überhaupt keinen Bezug zu ihr hatte. Dieser Gedanke war trotz aller Trostlosigkeit wenigstens ein Schmerz inmitten der Ohnmacht, und vielleicht war er es, der die Gesichter der Menschen plötzlich verwandelte, bis sie alle ein und dasselbe Gesicht trugen: Es
Weitere Kostenlose Bücher