Grim
einem Lächeln gesagt, kommt man nie mehr davon los. Dann ist man für alle Zeit verloren für die Welt der Schatten. So kam es, dass die meisten Vampire ihr unterirdisches Reich verlassen hatten – aber das Reich selbst war noch immer da, in ewiger Schönheit erstarrt. Immer wieder zweigten Tunnel und Korridore von dem Gang ab, den sie durchschritten, und schwere Steintüren führten in andere Bereiche Asdurs. Mia hatte viel von diesem Reich gehört, von glühenden Vulkanen und unergründlichen Seen, von Jagden durch geheimnisvolle Gänge und die Dschungel Islagons rings um die Flammenstadt Rha’manthur, und sie schauderte, als sie daran dachte, dass Grim die Nacht Kharamons durchstreift hatte auf der Suche nach dem Schwarzen Diamanten. Samhur hatte mit Lyskian eine Hütte beim Roten Felsen als Treffpunkt vereinbart – ein Ort, von dem Mia noch nie gehört hatte, und Lyskian hatte es auf ihre Fragen hin vorgezogen, sich mit Erklärungen zurückzuhalten. Die Welt der Vampire ist gefährlich , hatte er lediglich gesagt. Gerade dann, wenn es aussieht, als würde sie schlafen.
Vor einer steinernen Tür blieb Lyskian stehen. Er führte die Hand dicht über dem Stein durch die Luft, blauflammende Linien vereinten sich im Rahmen zu gleißendem Licht und öffneten die Tür. Mia folgte ihm über die Schwelle und sie traten in einen Wald aus Flammen. Turmhoch wuchsen uralte Bäume in das glitzernde Dunkel einer Höhle, Lianen hingen aus ihren Kronen und Farne mit seidigen, weißen Blättern bewegten sich leicht im Wind. Das Feuer jedoch, das alle Pflanzen mit unstetem Glimmen überzog und die Stämme der Bäume schwarz gefärbt hatte, verzehrte den Wald nicht, im Gegenteil: Es war, als würde es ihn am Leben erhalten. Flammenschleier strichen über den Waldboden, bunte Vögel flogen zu den Baumkronen hinauf und ließen Funken aus ihren Schwanzfedern fallen, und Mia bemerkte die Schatten lautloser Tiere, die in der dunklen Glut des Unterholzes auftauchten und aus glühenden Augen zu ihr herüberschauten.
Ein Duft durchdrang den Geruch von brennendem Holz und schwelenden Feuern, ein Duft, den Mia erst wenige Male zuvor wahrgenommen hatte und der sie nun frösteln ließ, da er über den Boden auf sie zu kroch. Nach Schnee roch er, nach Metall und samtenen Blüten. Es war das Blut uralter Vampire, das diese Erde getränkt und sie gezwungen hatte, Gewächse dieser Art hervorzubringen. Als der Schrei eines Vogels die Luft zerriss, trieb dieser Laut den Namen des Waldes auf Mias Lippen.
»Ein Ha’nak Nuy«, flüsterte sie kaum hörbar. »Ein Wald der Jagd aus der Ersten Zeit.«
Lyskian war neben sie getreten, sein Blick ging durchs Unterholz, als würde er in der Dunkelheit Bilder aus lang vergangenen Tagen sehen, Gestalten mit Waffen, nicht mehr als tanzende Schatten vor grellen Feuern, und Bestien an Ketten, die in den Tiefen des Waldes lauerten. Früher hatten die Vampire hier unten gejagt, Tiere, Anderwesen – und Menschen. Lyskian hatte Mia davon erzählt, und obgleich sie wusste, dass er sich daran nie beteiligt hatte – Jagden dieser Art waren nie meine Sache , pflegte er zu sagen – , ging nun ein seltsamer Glanz durch seine Augen, der für einen Moment die Maske der Jugend von seinen Zügen schmolz und sein wahres Alter durchscheinen ließ. Er nickte, als würde er ihre Gedanken bestätigen wollen, doch er sah sie nicht an. Wortlos deutete er den Pfad hinunter, der zwischen den Bäumen lag, und setzte sich in Bewegung.
Mia folgte ihm schweigend. Der Geruch des Blutes verschmolz mit den Geräuschen des Waldes und den flammenden Bäumen zu einem Bild düsterer Schönheit. Schwarze Schmetterlinge hinterließen Aschespuren auf den ledrigen Blättern der Pflanzen, ihre Flügel glitzerten, wenn sie sich bewegten, und immer wieder erbebte der Boden vom heiseren Brüllen großer Raubkatzen. Gerade wollte Mia die Hand ausstrecken und eine Blüte berühren, die am Rand des Pfades wuchs, als Lyskian ihr einen Blick zuwarf.
Bist du sicher, dass du das tun willst?
Er sah sie an, abwartend und ruhig wie in einer ihrer Lehrstunden, und Mia seufzte. Zu oft hatte sie diese Frage gehört, um nicht zu wissen, dass es ein großer Fehler wäre, sie zu bejahen. Sie nahm einen Stock, um sich der Blüte zu nähern, doch kaum hatte sie ihn ein Stück weit vorgestreckt, schnellte eine pechschwarze Zunge aus der Pflanze und pulverisierte ihn. Erschrocken starrte Mia auf die Blüte, in deren Kelch sich für den Bruchteil einer Sekunde
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