Grim
ein schuppiger Leib mit langen Fühlern bewegte. Gleich darauf war er wieder verschwunden.
Lyskian lächelte kaum merklich. Erinnere dich . In meiner Welt kannst du die Wahrheit nicht sehen, wenn sie sich dir nicht zeigt. Wenn du dem Schein der Schatten vertraust, wirst du fallen.
Sie setzten ihren Weg fort, und Mia erfuhr, wie recht er damit hatte. Immer wieder tauchten Tiere im Unterholz auf, die sie reglos anstarrten. Obwohl Mia sie nicht genau erkennen konnte, obwohl sie keinen Ton hörte, wusste sie, dass diese Wesen nach ihrem Geruch forschten, und als sie ein eisiger Windhauch streifte, zweifelte sie nicht daran, dass dies ein Atemzug gewesen war, ausgestoßen aus gierigen Nüstern. Auch Rehe glitten in scheuer Anmut durch die Schatten, und Mia bemerkte einen mächtigen Hirsch, der ihnen folgte. Doch als er zu ihr herübersah, schaute sie in ein Menschengesicht, vernarbt und mit scheinbar blinden weißen Augen, die sie umfassten, als könnten sie noch sehen – auf andere, grausame Weise. Und ohne dass Mia etwas dagegen tun konnte, ließ diese Kreatur sie den Wald sehen, wie er wirklich war. Denn das, was in diesen Augen lag, dieser kalte Glanz, der kein anderes Gesetz kannte als das eigene, kein Erbarmen und keine Hoffnung – das spürte Mia nun überall um sich herum.
Es hockte auf den Ästen der brennenden Bäume, es huschte über den Pfad und starrte zu ihnen herüber, es witterte nach ihnen und keuchte unter der Erkenntnis, dass ein Vampir in diesen Wald gekommen war, den seit langer Zeit kein Blutsauger mehr betreten hatte. Mia fühlte dieses Starren mit Grabesfingern über ihren Nacken streichen, ebenso wie die Finsternis, die sich unter der zitternden Haut der Schönheit verbarg – das Böse, oder das, was sie bisher als solches gekannt zu haben glaubte. Erst jetzt, da sie von ihm umdrängt wurde, jetzt, da sie in eines seiner Schlupflöcher hinabgestiegen war, erkannte sie, dass sie nie einen wirklichen Begriff davon gehabt hatte und wenn doch, dass er weiter von der Wirklichkeit entfernt gewesen war als jede Lüge. Und je länger sie auf diesem Pfad ging, je stärker sie seine Finsternis auf ihrer Haut spürte und den kalten Atem der Kreaturen, die sie stets schon lange wahrgenommen hatten, ehe sie selbst überhaupt begriff, dass sie beobachtet wurde, desto stärker begann sich ihre einstige Definition vom Bösen aufzulösen. Niemals zuvor hatte sie eine solche Hingabe und Sehnsucht gefühlt, die nur ihr galt, rückhaltlos und ohne jeden Kompromiss. Sie schaute in die Schatten, wohl wissend, dass sie sie nicht durchdringen konnte, und war ihnen vielleicht gerade deshalb in diesen Momenten näher als je zuvor. Sie spürte das Dunkel um sich herum, die Grausamkeit und die Kälte – und empfand nichts mehr als eine tiefe und sehnsüchtige Ehrfurcht.
»Dieser Wald ist wunderschön«, sagte sie leise.
Ein Lächeln glitt über Lyskians Gesicht. »Er ist, was er ist«, erwiderte er ruhig.
Mia betrachtete ihn von der Seite und vielleicht war es der Gedanke an den Glanz in seinen Augen, der sie sein wahres Alter hatte fühlen lassen, der sie fragen ließ: »Du bist schon einmal hier gewesen, nicht wahr?«
Er schwieg, und Mia rechnete damit, dass er abwehrend den Kopf schütteln würde wie immer, wenn sie ihn auf seine Vergangenheit ansprach und er ihr den Zugang dazu verwehrte. Doch sein Blick glitt in die Schatten, als würde er mehr darin erkennen als tanzende Dunkelheit, und er nickte kaum merklich. »Bhrogrum Dakaskos hat mich einst durch diese Unterwelt geführt. Er war es, der mich lehrte, was ich als junger Vampir wissen musste.«
»Aber er war nicht … «, Mia zögerte, als Lyskian sie ansah.
»Nein«, erwiderte er, ohne dass sie ihren Satz beendet hätte. »Er war es nicht, der mich erschuf. Ich wurde im Krieg geboren, einem Krieg, dessen Grausamkeit du dir nicht vorstellen kannst. Lange ist das her, doch noch immer rieche ich den Duft menschlichen Blutes und sehe das Gesicht meines Schöpfers im Schein der Fackeln.« Seine Züge verhärteten sich, als er fortfuhr: »Nicht mehr als ein Hund war ich für ihn, und nach seinem Ende irrte ich umher, zerrissen, verzweifelt, allein.« Er schwieg kurz, und seine Züge entspannten sich. »Ich war auf dem Weg in meine einstige Heimat, unwiderstehlich angezogen von etwas, das ich für alle Zeit verloren hatte, als Bhrogrum Dakaskos mich fand, dieser Krieger, der schon damals eine Legende war. Er hielt mich davon ab, meinen Weg fortzusetzen.« Er
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