Grim
Erinnerte er sich an die Sonnenstrahlen, die ihn in anderen Welten berührt hatten? Erinnerte er sich an die Hoffnung?
Erinnerungen sind es, die mein Schloss errichten , raunte Seraphin in Gedanken, und bevor Grim sich zu ihm umwandte, wusste er, wie sein Bruder dastand: an den Türrahmen gelehnt, den Kopf halb geneigt, ein kaum merkliches Lächeln auf den Lippen. Sie sind das Einzige, was mir geblieben ist.
Grim drehte der Nacht den Rücken zu und schaute zu Seraphin hinüber. Noch immer klaffte die Wunde in seiner Brust, er war bleich wie ein Toter, doch das Lächeln auf seinem Gesicht nahm ihm den Anschein von Verfall vollkommen.
Erinnerungen sind niemals das Einzige, erwiderte Grim. Denn sie brauchen immer jemanden, der sie ersehnt, und die Sehnsucht ist der Ursprung für die Zukunft, nicht für die Vergangenheit.
Gerade, als Seraphin zu einer Antwort ansetzte, fühlte Grim einen heftigen Stich in seiner Brust, als hätte die Kälte in ihm die Klauen ausgefahren. Er schwankte und griff nach der Wand, um nicht zu fallen. Schon war Seraphin bei ihm, er stützte ihn, als Grim sich zu Boden sinken ließ und sich gegen das Fenster lehnte, und er betrachtete ihn schweigend. Grim wusste, dass er in seinen Gedanken las, wusste auch, dass er in diesen Augenblicken erfuhr, was geschehen war, und er kehrte selbst noch einmal in den Vladislav-Saal zurück und spürte Verus’ Worte wie glühendes Eisen in seinem Fleisch. Schließlich senkte Seraphin den Blick. Grim rechnete damit, dass er Zorn in den Augen seines Bruders finden würde oder Verachtung. Doch als Seraphin ihn ansah, lag nichts als Mitgefühl in seinem Blick.
»Du zitterst«, sagte Seraphin leise.
»Hast du es nicht vorausgesehen?«, fragte Grim, aber seine Stimme klang nicht höhnisch, sondern nur traurig. »Du hast mich gewarnt, oder etwa nicht?«
Seraphin lächelte kaum merklich. »Es ist das Privileg des Jüngeren, sich wie ein Narr zu benehmen, kleiner Bruder.«
Für einen Moment sah Grim sich neben Seraphin auf der Mauer jenseits des Schlachtfeldes sitzen, sie beide in Gestalt der Kinder, deren Herzen sie trugen, und er wusste, dass sie vor langer Zeit die Lieder der Menschen zusammen gesungen hatten, dass sie miteinander gelacht und geweint hatten und Brüder gewesen waren schon lange vor ihrer Geburt. Ein wärmender Hauch zog über seinen Rücken. Dann schüttelte er den Kopf. »Ich habe viele Dinge in meinem Leben getan, die ich bereue«, sagte er. »Vieles, das ich gern ungeschehen machen würde, und in der Tat war ich oft ein Narr und ein törichtes Kind. Aber das, was in der Burg passiert ist und an der Grenze Braskatons … Nein, Seraphin. Das geht weit darüber hinaus.« Er hielt inne, doch sein Bruder antwortete nicht. Er saß nur da, regungslos und schweigend, und etwas glomm in der Stille seiner Augen, das Grim fortfahren ließ. »Ich erinnere mich an diesen Moment, in dem ich nicht mehr wusste, ob ich den Riss in die Grenze brannte, um Carven zu retten oder um die Macht der Flamme zu spüren, und ich weiß nicht, was schlimmer ist: Carvens Blick, als ich mich verlor, oder das Lächeln von Verus. Vielleicht hat er recht. Vielleicht war es schon immer meine Bestimmung, der Flamme zu folgen, wohin sie mich auch führen wird.«
Seraphin hob spöttisch die Brauen. »Du solltest selbst entscheiden, worin deine Bestimmung liegt, und das nicht einem drittklassigen Dämon überlassen. Verus wird nicht umsonst Seelenfresser genannt.«
Grim betrachtete seine Klaue, kurz sah er wieder die Funken der Flamme über seine Finger gleiten, und er fröstelte bei dem Gedanken daran, wie Verus sie in Empfang genommen hatte. »Von dir hat er nicht bekommen, was er wollte«, erwiderte er. »Du hast nie daran gedacht, dir die Flamme des Prometheus anzueignen.«
Da lachte Seraphin. »Oft habe ich daran gedacht«, sagte er und bedachte Grim mit einem Blick, wie es bei den Menschen die großen Brüder taten, wenn sie ihr Geschwisterkind mit der Weisheit des Alters ansahen und gleichzeitig eine stille Zärtlichkeit in ihren Blicken mitschwang. »Aber Verus kannte mich gut. Sie hätte mich vernichtet, und ich wusste es.«
Er schaute aus dem Fenster, die Lichter seines Reichs flackerten über sein Gesicht, und ein Schmerz trat auf seine Züge, der Grim schweigen ließ. Kurz sah er aus wie der Mensch, der er gewesen war, ehe die Gargoyles sein Haus gefunden und sein Leben vernichtet hatten. Eine seltsame Ruhe ging von diesem Traumschloss aus, die Grim erst jetzt
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