Grim
Nacht war bald vorüber, und er wollte sie nicht allein auf diesem Dach beschließen. Er würde im Zwielicht vorbeischauen, vielleicht waren Bocus und die anderen noch da.
Gerade wollte er die Schwingen ausbreiten, als er den Nebel bemerkte, der plötzlich hinter dem Gare du Nord aufstieg. Grim zog die Brauen zusammen. Die Nacht war kalt und klar, keine Nacht für Nebel eigentlich – und schon gar nicht für einen Nebel, der sich auf diese Weise bewegte. Unnatürlich schnell breitete er sich aus, zog über die Dächer und strich mit dürren Geisterfingern über die Fassaden der Häuser. Grim fuhr sich an die Brust, das Brennen in seinem Inneren schnitt ihm ins Fleisch. Irgendetwas stimmte hier nicht.
Lautlos erhob er sich in die Luft. Er glitt dicht über den Dächern dahin, ließ das Rauschen der Bäume im Square Montholon hinter sich und flog mitten hinein in den Nebel. Sofort umgab ihn eine dumpfe, unwirkliche Stille. Wie im Traum fuhr er sich über die Augen, denn der Nebel legte sich als klebrige Schicht auf sein Gesicht und blieb an seinen Klauen haften. Erst in der Nähe des Bahnhofs wurde der Dunst durchscheinender, und Grim sah, dass dürre Schleier wie lebendige Wesen durch Fugen und Mauerritzen ins Innere der Gebäude drangen. Er lauschte angestrengt, doch er hörte kein Geräusch aus den Wohnungen der Menschen, keine Gespräche, noch nicht einmal leise Schritte.
Das Blut floss schneller durch seine Adern, als er schwingenrauschend vor dem Gare du Nord landete. Einige Autos waren von der Straße abgekommen und standen nun kreuz und quer auf den Fußwegen, andere waren beim Vordermann aufgefahren, und ein Wagen parkte mitten in der verwüsteten Auslage einer Brasserie. Doch Grim hörte das Schrillen der Alarmanlage kaum. Wie gelähmt betrachtete er die Menschen, die auf der Straße oder in ihren Autos zusammengebrochen waren. Sie lagen da wie von Kugeln niedergestreckt, Puppen mit verdrehten Gliedern, die der Nebel in seinen stummen Schleier hüllte, und für einen Moment stand Grim wieder auf den Schlachtfeldern, auf denen er gekämpft hatte, in den Wäldern Rumäniens, den Katakomben von Prag, den Ruinen des Sturmpalastes im hohen Norden. Er fühlte die Kälte des Todes und den grausamen Atem des ersten Windhauchs nach dem Kampf auf seinem Gesicht, der ihm jedes Mal zeigte, dass er nicht zu den Toten gehörte, dass er am Leben war und diese Bilder mit sich nehmen würde bis ans Ende seiner Tage. Er starrte die Menschen an wie durch eine gläserne Wand, er sah die Schatten, die sich über ihre Haut legten, und auf einmal konnte er die Stille, die ihn umgab, nicht mehr ertragen. Was zum Teufel war hier passiert?
Gewaltsam löste er sich aus seiner Starre und ging zu einer jungen Frau hinüber, die mit einer Platzwunde an der Stirn am Steuer ihres Autos saß. Ihr Kopf war offensichtlich auf das Lenkrad geknallt, als sie die Kontrolle über das Fahrzeug verloren hatte. Grim öffnete die Tür und legte eine Klaue an ihren Hals. Sie war eiskalt, fast meinte er, den Flügelschlag zu spüren, den er seit jeher zu gleichen Teilen verachtete und liebte, jenen Hauch, der … Wie ein elektrischer Schlag traf ein Impuls seine Finger. Er erschrak, so unerwartet war er gekommen, und lauschte noch einmal in die Stille. Dann holte er Atem.
Die Menschen um ihn herum waren nicht tot.
Sie schliefen.
Vorsichtig beugte er sich über die Frau. Ihr Schlaf war unnatürlich tief, ihr Herzschlag verlangsamt, ihr Atem schwach. Es war, als wäre sie in eine Art Koma gefallen. Gerade wollte er einen Stärkungszauber in ihren Körper schicken, als sie den Kopf bewegte, erst kaum merklich, dann immer heftiger. Sie begann zu keuchen wie nach einem langen Lauf, schlug nach etwas und traf das Armaturenbrett, doch ehe Grim sie festhalten konnte, schrie sie auf, und drei blutige Striemen liefen wie von unsichtbaren Klingen gezogen über ihre Wange. Im nächsten Moment riss sie die Augen auf und sah ihn direkt an.
Grim fuhr so heftig zurück, dass er sich den Kopf am Autodach stieß. Blankes Entsetzen flammte über das Gesicht der Frau, doch ihre Augen waren angefüllt mit Nebel, als wäre er in ihren Leib gedrungen wie zuvor in die Wohnungen. Grim hörte, dass auch die anderen Menschen sich rührten, doch er konnte sich nicht von der Frau abwenden. Etwas tief in ihr schaute ihn durch den Nebel hindurch an und hielt sich an ihm fest, ein schwaches Licht in der erstickenden Dämmerung, die ihre Augen ausfüllte. Gleich darauf erklang
Weitere Kostenlose Bücher