Grim
gänzlich zu verstehen und auf seine Art vollkommen. Mia erinnerte sich an jedes einzelne Bild ihres Vaters. Viele von ihnen standen noch immer in seinem alten Atelier in Ghrogonia. Sie waren so intensiv, dass man glaubte, sie wären lebendig, und man wurde auf seltsame Weise satt davon. Sie strahlten eine Ruhe aus und eine Gewissheit, die Lucas selbst nie gehabt hatte und von der man selbst bis zu dem Zeitpunkt, da man seine Bilder sah, gar nichts geahnt hatte. Doch man hatte danach gesucht, das spürte man im Angesicht seiner Kunst, und man schämte sich nicht dafür, im Gegenteil: Man fühlte sich stolz.
Mia hielt inne und strich über den Rand einer Staffelei. Vielleicht empfanden die Menschen bei ihren Bilder ähnlich, vielleicht mochten sie ihre Arbeiten deshalb so sehr. Lyskian hatte ihr das schon häufig gesagt, und doch … Sie seufzte. Wie viele Nächte hatte sie sich in letzter Zeit um die Ohren geschlagen, um besser zu werden, obwohl sie wusste, dass das nichts ändern würde. Denn Mia spürte die Blicke der Menschen genau und wusste, was sie über sie dachten. Sie war ein Freak in schwarzer Kleidung, bestaunt und bewundert zwar, aber doch beglotzt wie ein Tier im Zoo. Dennoch fiel es ihr schwer, die Erwartungen einer Welt zu missachten, die nach ihrer Kunst gierte, ohne sie zu begreifen, und vielleicht hatte sie sich deswegen dazu entschlossen, neben ihrer eigentlichen Arbeit Zeichenkurse zu geben. Sie lächelte, als sie an Lyskians begeistertes Gesicht dachte, als sie ihm davon erzählt hatte – und an das Entsetzen, als sie ihm eröffnet hatte, dass sie diese Kurse keineswegs für hochwohlgeborene Herrschaften, sondern kostenlos für Kinder und Jugendliche aus armen Familien geben wollte. Niemals hätte sie damit gerechnet, dass schon in der ersten Stunde so viele Interessierte kommen würden. Viele Eltern fragten sie nach Lucas, und wenn sie mit ihnen sprach, schien es ihr manchmal, dass sie sich nur umdrehen müsse, um ihren Vater in einer Ecke des Ateliers zu sehen. Sie erinnerte sich an das Glücksgefühl, als sie erstmals inmitten ihrer Schüler gesessen hatte, es war ganz still geworden, weil jeder sich mit seinem Bild beschäftigte. Und als sie den Glanz in den Augen der Kinder gesehen hatte, da musste sie an die Bewohner Dublins denken, an Tomkin, den Barden, und daran, dass dort nun Menschen lebten, die von der Anderwelt wussten. Nachdenklich ließ sie ihren Blick über die Bilder schweifen und dachte darüber nach, was sie in einer Welt wäre, in der alle sehen könnten, in der es den Zauber des Vergessens nicht gab. Jedenfalls keine Hartidin mehr, keine Seherin unter Blinden. Sie wäre ein Mensch – wie die anderen. Sie wäre nicht so einsam.
Sie blieb vor einem Bild stehen, vor Noir . Es zeigte ihr Gesicht, mehr nicht, aber in ihren Augen lag etwas, das die Menschen berührte, ohne dass sie genau sagen könnten, was es war. Es verwischte, sobald sie sich vorbeugten, um Genaueres zu erkennen, doch je weniger sie versuchten, die Pinselführung mit den Augen nachzuziehen, um das Geheimnis zu ergründen, desto deutlicher fühlten sie, was die Person auf dem Bild fühlen musste – und immer wieder kam es vor, dass Mia denselben Ausdruck in den Gesichtern der Betrachter wiederfand: ein haltloses, tief empfundenes Staunen und eine Sehnsucht, die der Beginn sein konnte für eine neue Welt. Sie holte tief Atem. Vielleicht war das nur ein winziger, aber immerhin ein erster Schritt.
Das Knarzen der Wasserleitungen ließ sie zusammenfahren. Nicht nur einmal war es vorgekommen, dass die Duschgewohnheiten des alten Maxime ihr ein Bild verdorben hatten, weil sie vor Schreck den Pinsel quer über die Leinwand gerissen hatte. Doch eigentlich hätte sie sich so langsam daran gewöhnen können. Maxime stand jeden Tag außer sonntags kurz vor Sonnenaufgang auf, duschte und fuhr mit seinem alten, verrosteten Damenfahrrad hinunter ins Café von Maman Pique, um einen bitteren Kaffee zu trinken, von dem er dann den ganzen Tag über Bauchweh haben würde. Mia blies die Kerzen aus und verließ das Atelier. Ihre Schritte krachten das hölzerne Treppenhaus hinab, aber selbst wenn sie langsam ging, war es nicht wesentlich leiser, und nun hatte sie es eilig.
In der Metro lehnte sie sich gegen eine der Haltestangen, ignorierte die hochgezogenen Brauen einer älteren Frau, die auf ihre mit Ölfarbe befleckten Hände schaute, und ließ die Blicke der anderen Fahrgäste von sich abgleiten, die sie ansahen, als
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