Grim
zwanziger Jahren, von denen ihr Lucas immer erzählt hatte, obwohl er genau wie sie gar nicht wissen konnte, wie es damals wirklich gewesen war.
Ein wärmendes Gefühl breitete sich in Mia aus, als sie an ihren Vater dachte. Lucas hatte ein ganz ähnliches Atelier besessen, damals, als er angefangen hatte, mit dem Zeichnen seinen Lebensunterhalt zu verdienen, und wenn sie die Augen schloss, dann fühlte sie sich manchmal wieder wie damals, als sie noch klein gewesen und auf dem alten roten Sofa mit dem kratzigen Bezug eingeschlafen war, während ihr Vater bis früh am Morgen an der Staffelei gestanden hatte. Der Wind hatte jede Nische im Mauerwerk gefunden, aber sie hatte nie gefroren, niemals. Das liegt am Wind in Montmartre , hatte Lucas immer gesagt und mit zerzausten Haaren hinter der Staffelei hervorgeschaut. Er dankt es uns, dass wir die Künstlerseele dieses Viertels erkennen und nicht mit den Snobs und Pseudointellektuellen nach Montparnasse abwandern. Mia hatte nichts von dem verstanden, was er gesagt hatte, außer, dass der Wind von Montmartre ein Zauberer war und etwas ganz Besonderes. Und auch jetzt hörte sie ihm zu, wie er die dünnen Fenster zum Zittern brachte und sie leise singen ließ. Mia liebte ihre Stimmen, die sie an den klagenden Wehmut der Geistergesänge auf den Friedhöfen der Stadt erinnerten, sie hatte sie von Anfang an geliebt, und sie musste an Grim denken, der vermutlich gerade in diesem Augenblick wieder durch Nacht und Kälte streifte. Vielleicht hatte er sich auf dem Cimetière du Père Lachaise auf einer der Kapellen niedergelassen, dort, wo Moira ihre letzten Nächte verbrachte, seine alte Mentorin, mit der er vor langer Zeit nach Paris gekommen war, oder er schaute von einem anderen Gebäude seiner Vergangenheit zum Mond hinauf, als würde er überlegen, wie er dem Trabanten sein kühles Lächeln am besten vom Gesicht schlagen konnte. Er war unruhig in letzter Zeit, getrieben von etwas, das er selbst nicht genau benennen konnte, und seit Carven abgereist war, hatte sich sein Zustand nicht gerade verbessert. Dennoch musste Mia lächeln, als sie daran dachte, wie er in der ersten Nacht an Carvens Bett gestanden hatte. Wie ein Wunder hatte Grim den Jungen angesehen und einen weichen, verwundbaren Ausdruck im Blick getragen, der Mia allein bei der Erinnerung einen Schauer aus Zärtlichkeit über den Rücken schickte.
Schwungvoll setzte sie ihre Signatur unter das Bild, löste es aus dem Zeichenblock und heftete es an eine leere Leinwand. Es waren einige Bilder zusammengekommen in der letzten Zeit. Sie konnte gar nicht mehr zählen, wie oft sie sich in den vergangenen Wochen mitten in der Nacht aus dem Bett geschlichen hatte, um eine Zeichnung zu beenden. Vielleicht, so dachte sie, war sie bemüht, den Rückstand aufzuholen, den sie in den Jahren angesammelt hatte. Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern, wann genau sie begonnen hatte, wieder intensiv zu zeichnen, aber sie wusste, dass ihr Entschluss dazu mit ihrem Kampf gegen die Königin der Feen zu tun hatte und mit dem Tod von Hortensius, dem Letzten Ritter der Sterne. Sie hatte nie eine Vorstellung davon gehabt, was sie mit ihrem Leben anstellen sollte, nicht genau jedenfalls, aber seit diesen Ereignissen schien es ihr, als wäre ein Pfad in ihr freigelegt worden, mehr noch, als hätte sie ihn selbst freigesprengt. Vielleicht hatte auch ihre Arbeit mit Lyskian, den sie seit der Ausstellung im Louvre bei verschiedenen Projekten unterstützte, sie darin bestärkt, und ganz sicher wäre sie ohne den Prinzen der Vampire niemals dort angekommen, wo sie nun war.
Die Vorhänge bewegten sich leicht, als sie an Lyskian dachte. Ihr Verhältnis war vertrauensvoller geworden durch den fast täglichen Umgang, den sie pflegten – wenn man das über eine Beziehung zu einem Vampir überhaupt sagen konnte. Mitunter kam sie sich tatsächlich wie das Anschauungsobjekt vor, als das er sie bei ihrer ersten Begegnung bezeichnet hatte, doch gleichzeitig war jede seiner Handlungen, jedes Wort und jeder Blick von einem Verständnis geprägt, das Mia zu gleichen Teilen lächeln und schaudern ließ. Vielleicht lag es an den Jahrhunderten, in denen er sich mit der menschlichen Psyche auseinandergesetzt hatte, vielleicht an der Liebe zur Kunst, die sie teilten, oder der Abscheu vor der Welt, die er mitunter ebenso empfand wie sie. Sicher war nur, dass er sie bedingungslos verstand, selbst dann, wenn sie selbst nicht wusste, was sie fühlte, und nicht
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