Grim
– und die Kreatur, die den Zauber auf ihr Gesicht gelegt hatte, das Wesen, das sich in dem Staunen, in dem Zauber und der Hingabe in den Augen dieses Mädchens spiegelte und das die Sehnsucht in unzähligen Menschen in der Realität entfacht hatte nach dem, was jenseits der Gewissheit existierte: Wunder und Schatten. Grim war es, der unter ihren Händen Gestalt annahm, sie zeichnete ihn bei ihrer ersten Begegnung auf seinem Turm, gerade in dem Moment, da sie sich in ihn verliebt hatte, ohne es selbst zu wissen. Ja, sie zeichnete den Gargoyle, den dunklen Engel, der ihren Blick erwidert und damit den Anfang gemacht hatte für eine Geschichte voller Zauber.
Und sie zeichnete weiter, die ganze Welt darum herum, sie zeichnete Remis und Bocus und Klara und Fibi, sie zeichnete Tomkin, Carven und Mourier, Theryon, Jakob, die Königin der Feen, Lyskian, aber auch Ghrogonia, den Eiffelturm bei Nacht und die staunenden Gesichter der Menschen in der Welt der Träume, die durch ihre Augen auf das Bild schauten in diesem flüsternden Moment. Tief hinab tauchte sie in die Kälte, die sie so oft gelähmt und eine eisige Verzweiflung in ihre Glieder gesandt hatte, und sie fühlte die Kraft der Flamme in sich – die Dunkelheit der Flamme der Nacht. Mia entzündete sie zu schwarzem Feuer, und sie erinnerte sich – ja, sie erinnerte sich an alles, an die Schönheit der Anderwelt, an die Zerrissenheit der Menschen und an die Wirklichkeit, an der sie litt und verzweifelte und die sie gleichzeitig liebte, ganz egal, in welcher Welt sie ihre Schatten spürte. Glühend strömte das Feuer in ihre Zeichnung, und die Farben der Träume entsprangen aus der Dunkelheit, sie entfachten das Bild und zeigten die Welt, wie sie sein konnte – die Welt, wie sie wirklich war.
Mia ließ die Hände sinken. Die Ränder des Bildes verloren sich in schimmernden Farben und Pinselstrichen. Mit glänzenden Augen schauten die Menschen zu ihr herüber, aber die Flammen auf ihren Stirnen loderten weiter, ihre Körper wurden blass, und als Mia vortrat, sah sie mit Schrecken, wie einige bereits kaum mehr waren als durchscheinende Schemen. Doch sie stieß die Furcht von sich und hob den Kopf. Niemand wird euch retten , sagte sie in Gedanken und hörte, wie die Menschen Atem holten, als hätte sie sie im Schlaf berührt. Kein dunkler Engel, kein Mädchen in der Welt der Träume, auch kein Zauber, der aus der Dunkelheit entspringt. Niemand wird eure Welt erschaffen – wenn ihr es nicht selbst tut. Ihr könnt euch entscheiden, ihr ganz allein, und ihr könnt zum Leben erwecken, was ihr euch erträumt. Die Welt kann wirklicher sein als alles, was ihr kennt! Doch ihr müsst daran glauben. Ihr habt die Kraft dazu.
Die Stille, die nun einkehrte, legte sich um Mias Kehle. Aber da hörte sie den Hauch eines Geräuschs, ein leises Flüstern vielleicht, und das Mädchen, das sie angesehen hatte, trat vor. Wortlos streckte es die Hand aus, und als Mia es an den Rand des Bildes führte, bündelten sich die Farben der Traumwelt unter seinen Fingern. Zaghaft begann das Mädchen zu zeichnen, es setzte Mias Bild fort, und kaum, dass es die ersten Striche tat, stob ein Schwall glimmender Blätter aus der Zeichnung. Funkelnd glitten sie über die Menschen hin, und da begannen auch sie, das Bild weiterzumalen. Die Farben sprühten unter ihren Fingern, der Himmel wurde lila, blau und violett, Mia sah Trolle durchs Unterholz eines Schwefelwaldes brechen, sie sah grüne Kobolde und das Antlitz der Schneekönigin, in ihrem Schloss hoch im Norden. Das ist Magie , flüsterte Mia und schaute der Fee ins Gesicht. Hob die Königin die Brauen in dem Bild, das ein Mensch von ihr zeichnete? Lächelte sie vielleicht sogar?
Die Flammen verschwanden von den Stirnen der Menschen, und Mia spürte die Tränen kaum, die ihr über die Wangen liefen. Sie hatte die Welt davor bewahrt, von den Dämonen heimgesucht zu werden, doch noch hatte sie nicht gesiegt. Nun lag es an Grim, Verus zu bezwingen, um die Dämonen nach Braskaton zurückzuschicken und den Menschen die Rückkehr zu ermöglichen. Er schaute sie aus dem Bild heraus an, und sie sehnte sich so sehr nach ihm, dass sie gleichzeitig fliegen und zerspringen wollte. Wie Schmetterlingsflügel flatterte diese Empfindung in ihrer Brust, und sie wusste, dass sie mit ihr nicht allein war in diesem Moment. Die Menschen um sie herum fühlten dasselbe. Denn erstmals, seit er in kalten Nächten über ihr Schicksal wachte, sein Leben für sie riskierte,
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