Grim
wüssten sie, wer sie war. Vielleicht stimmte das sogar, Lyskian hatte dafür gesorgt, dass ihr Foto regelmäßig in allen wichtigen Tageszeitungen von Paris erschienen war. Unabhängig davon hatte es etwas Seltsames für sie, unter Menschen zu stehen, die in Anzügen und Kostümen zur Arbeit gingen, während sie selbst keine Termine, keine Uhrzeiten beachten musste. Kind der Nacht , hatte Grim sie vor einer Weile mit ungewohnter Sanftheit in der Stimme genannt, weil sie ein Teil der Anderwelt geworden war, weil sie wie Lucas bevorzugt nachts arbeitete, weil sie sich nach wie vor schwarz kleidete und – diesen Grund hatte Mia angefügt – weil sie einen Engel liebte, einen Engel aus Schatten und Dunkelheit. Sie lächelte ihrem Spiegelbild zu. Manchmal gab es nichts Schöneres, als ein Kind der Nacht zu sein.
Sie ließ die Stationen an sich vorbeirauschen und fühlte das vertraute, dumpfe Ruckeln der Metro. Ihre Mutter und Josi würden bald aufstehen, und es war zu einer Tradition für Mia geworden, in den Morgenstunden bei ihnen vorbeizuschauen, mit ihnen am Küchentisch zu sitzen wie früher und auf Jakobs Anruf zu warten. Ein Stich ging durch ihre Brust, als sie an ihren Bruder dachte. Vor wenigen Tagen erst war er aufgebrochen und sie vermisste ihn, als wäre er vor Jahren fortgegangen. Sie dachte an sein schmales, blasses Gesicht, an die Dunkelheit in seinen Augen und an sein Lachen, das immer häufiger erklang, je länger seine Erlebnisse in der Welt der Feen zurücklagen. Er brauchte Zeit, um darüber hinwegzukommen, doch eines Tages würde er wieder der Alte sein, daran zweifelte sie nicht, und dann konnten sie den Weg der Hartide wieder gemeinsam gehen – so wie früher. Ganz genau so.
Der warme Atem der Metroschächte schlug ihr entgegen, als sie die Bahn verließ und mit schnellen Schritten die Treppe hinauflief. Sofort umfing sie wieder die Kälte der Stadt, Paris am Morgen, ein dämmriges Zwischenland ohne Anfang und Ende, ein Nirgendwo, in dem seit Ewigkeiten die Baguettes geliefert wurden und die Rufe der Fahrer die Gassen mit weichen Lauten erfüllten, mehr Geplätscher als Worte. Mia ließ sich hineinfallen in dieses geheimnisvolle Reich und beobachtete die Auslieferer, die die Stadt langsam wieder zum Leben erweckten. Sie war müde, aber auf eine gute Art, und ein wohliges Gefühl breitete sich in ihr aus, als sie an den Kaffeegeruch dachte, der ihr schon einige Schritte vor der Wohnungstür in die Nase steigen würde. Vielleicht hatte Josi …
Lautes Hupen riss sie aus ihren Gedanken. Sie sah auf und stellte fest, dass sich in einiger Entfernung ein Stau gebildet hatte. Es war nicht ungewöhnlich, dass es im Pariser Straßenverkehr zu Reibereien kam, doch am Ende der Straße hatte sich eine Menschenmenge versammelt, die Polizei hatte die Kreuzung abgesperrt, und das undeutliche Gemurmel einer Flüstertüte brandete über die wartenden Autofahrer hinweg.
»… gesperrt. Bitte umfahren Sie diesen Bereich weiträumig. Ich wiederhole: Die Rue de Tourtille, die Rue Julien Lacroix, die Rue Jouye-Rouve und zahlreiche Querstraßen sind bis hinauf zur Rue des Couronnes aufgrund des dichten Nebels gesperrt. Wenden Sie und … «
Ein wütendes Hupkonzert verschluckte die Stimme und trieb Mia durch die Menschenmenge, bis sie an die Absperrung stieß. Auf der Kreuzung standen mehrere Autos mit Beulen und Schrammen. Drei Krankenwagen waren vor Ort, Ärzte und Sanitäter liefen zwischen den Fahrzeugen hin und her und versorgten kleinere Wunden der Menschen, die in ihren Autos saßen oder frierend in der kalten Morgenluft standen. Die Polizei hatte nicht nur die Kreuzung, sondern die gesamte Straße gesperrt, Blaulicht zerriss die Dämmerung, und dahinter, dort, wo die Rue Lesage und die Rue Ramponeau lagen und der Bäcker, bei dem Josi jeden Morgen ihre Brötchen kaufte, erhob sich undurchdringlicher Nebel.
»Er soll überall in der Stadt aufgetaucht sein«, hörte Mia eine Frau neben sich sagen. »Wahrscheinlich ein Wetterumschwung.«
»Oder der Wind hat ihn von den Feldern in die Stadt getrieben«, mischte sich ein älterer Mann ein. »Das habe ich schon öfter erlebt.«
»Der Klimawandel wirkt sich auch auf uns aus«, warf ein junges Mädchen ein. »Es wäre naiv zu denken, dass wir davon verschont würden. Früher hat es solche Nebel nicht gegeben, da sieht man, dass … «
Mia blendete ihre Worte aus. Sie wusste, dass die Menschen versuchen würden, eine rationale Erklärung für diesen Nebel zu
Weitere Kostenlose Bücher