Grim
ihrem geistigen Auge schon ein blutiges, halb abgerissenes Seilende gesehen, eine Hand, die sich ohne einen dazugehörigen Arm daran festkrallte, und sie hätte über sich selbst gelacht, wenn sie nicht im nächsten Augenblick den Mann aus dem Nebel gezogen hätten. Er lag am Boden, kurz glaubte sie, er wäre tot. Doch schon eilte ein Sanitäter heran, ließ sich neben ihm auf die Knie fallen und griff nach seinem Arm.
»Er lebt!«, rief er, und Erleichterung erfasste die Umstehenden. »Sein Puls ist stark verlangsamt. Wir müssen … «
Doch bevor er seinen Satz beendet hatte, zog sich ein Netz aus schwarzen Adern über die Haut des Mannes. Erschrocken wich der Sanitäter zurück, ein Polizist hinderte den Sohn daran, zu seinem Vater zu laufen. Nur Mia trat näher, sie hörte das Knistern der Adern und fühlte das Gift, das den Körper des Mannes überzog, als eiskalten Hauch. Keuchend bäumte er sich auf und fasste sich an die Kehle, sodass blutige Striemen in seinem Fleisch zurückblieben. Er versuchte aufzustehen, doch der Sanitäter hielt ihn fest, um zu verhindern, dass er fiel. Die Lider des Mannes flatterten, Mia sah, dass Blut aus seinem Ohr lief, und sie stürzte auf den Sanitäter zu.
»Lassen Sie ihn los!«, rief sie außer sich. »Er stirbt!«
Erst, als sie es aussprach, begriff sie, dass sie recht hatte. Doch der Sanitäter verstand nichts, und ehe er ihren Worten Folge leisten konnte, holte der Mann aus und schlug ihm die Faust ins Gesicht. Wie im Fieber taumelte er los und stürzte sich zurück in den Nebel, der ihn umgehend verschluckte.
Mia hörte das Schluchzen des Jungen kaum, der auf die Knie fiel. Sie sah auch nicht die entgeisterten Gesichter der Polizisten oder den Sanitäter, der sich die blutende Nase hielt und wie ein Kind in den Nebel starrte. Alles, was sie wahrnahm, war das Flüstern, das aus den weißen Schleiern drang, ein unheilvolles Murmeln, das nach ihrer Kehle griff. Sie wollte fliehen, sie wollte sich umdrehen und einfach weglaufen. Aber sie tat es nicht. Sie meinte, die Stimme ihrer Mutter zu hören, die Stimme von Josi, die nach ihr rief, und noch ehe einer der Polizisten sie daran hätte hindern können, trat sie hinein in den Nebel.
Die Stille verschloss ihre Sinne, als würde sie auf den Grund des Meeres sinken. Sie konnte einige Armlängen weit sehen, ein Bus hatte sich auf der Fahrbahn quer gestellt und einen Auffahrunfall verursacht. Nur wenige Schritte von ihr entfernt lag der bärtige Mann auf dem Rücken, seine Brust hob und senkte sich wie in sehr tiefem Schlaf. Eine Wunde an seiner Schläfe ließ darauf schließen, dass er ohnmächtig geworden und ohne den Sturz abzufangen mit dem Kopf auf den Asphalt geschlagen war, und während das Adergeflecht von seinem Körper verschwunden war, brannte auf seiner Stirn eine schwarze Flamme, die nun, da Mia näherkam, eine zweite Flamme aus sich herauslöste und in ihre Richtung schickte. Mia wollte zurückweichen, doch es war, als würde der Nebel sie festhalten, als würden sich weiße Schlingen um ihre Glieder ziehen und jede Bewegung unmöglich machen. Sie sah zu, wie die Flamme sich auf ihre Stirn legte, sie fühlte ein kurzes Brennen – und hörte das Knistern der Funken, als das Feuer zerbrach. Sofort gab der Nebel sie frei.
Vorsichtig berührte sie ihre Stirn. Sie war eisig dort, wo die Flamme sie getroffen hatte, und die Kälte drang durch ihre Finger und glitt unheilvoll über ihre Haut. Auf einmal klangen Geräusche durch die Stille, es waren Töne wie in einem Traum, und als Mias Herz schneller schlug, glitt der Laut aus ihr heraus. Er drang durch ihre Füße in den Boden, er brachte die Erde zum Erzittern, und als hätte er den Nebel geweckt, ging ein Flüstern hindurch – dasselbe Flüstern, das sie bereits wie eine Ahnung vor ihrem Eintritt in die weißen Schleier gehört hatte. Mia setzte sich in Bewegung, sie hörte ihren eigenen Herzschlag überall um sich herum. Es war, als wollte er sie auseinanderreißen, so dröhnend schlug er ihr entgegen, doch sie ballte die Fäuste. Sie durfte sich nicht ablenken lassen. Ihre Mutter und Josi waren in diesem Nebel, sie musste ihnen helfen, irgendwie. Sie holte tief Atem, während sie ihren Weg fortsetzte, und obwohl die Anspannung nicht von ihren Schultern wich, wurde ihr Herzschlag leiser. Dennoch schauderte sie, als sie die Menschen in den Autos schlafen sah, und sie fuhr heftig zusammen, als sie ein kleines Mädchen entdeckte, das auf der Rückbank eines Wagens
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