Grimes, Martha - Inspektor Jury 17 - Die Trauer trägt Schwarz
war ein Besessener«, sagte er, als er die Seiten umblätterte. »Ihn interessierte nur eins - die Kunst. Alles andere vernachlässigte er, alles, alle, sich selbst inbegriffen. Es gab Zeiten, in denen er überhaupt keine Menschenseele sah. Er gehörte einer Gilde an - den Speziali -, zu deren Mitgliedern auch Lebensmittelhändler, Krämer, zählten. Ich fand das immer höchst amüsant. Nun, mit Masaccio wurde es dann ganz schlimm, aus lauter Angst, andere könnten seine Werke stehlen, wurde er - wie sagt man dazu ?«
Er schnalzte ein paarmal mit den Fingern.
»Paranoid?«, schlug Melrose vor.
»Paranoid, si. Er wurde paranoid. So paranoid, dass er nur noch seinem Krämer Zutritt zu seiner Behausung gestattete, als Einzigem. Als er eine Zeitlang vergaß zu essen, bat er den Krämer um Beistand und ließ sich Brot und Käse bringen. Der Krämer hatte mit Kunst nichts zu tun, außer dass er eben in derselben Gilde Mitglied war wie die Maler. Er war vertrauenswürdig. Er war vollkommen desinteressiert. Wieso also nicht dem Menschen vertrauen, der nicht davon profitiert, he? Wieso nicht dem Lebensmittelhändler vertrauen?« Di Bada kehrte zu seinem Stuhl hinter dem Schreibtisch zurück und seufzte. »Sie wissen, dass er sehr jung starb -«
»Mit siebenundzwanzig«, ließ sich Trueblood vernehmen.
Melrose meinte, da einen Frosch im Hals gehört zu haben.
»Stellen Sie sich vor, was er alles bewerkstelligt haben könnte, wenn er auch nur zehn Jahre länger gelebt hätte.« Der alte Italiener ließ seinen Gedanken freien Lauf. »Der große Brunelleschi; Donatello, vielleicht der größte Bildhauer seit den Griechen; und unser Masaccio, der erste große Naturalist.«
An Trueblood gewandt, sagte er: »Waren Sie in der Brancacci-Kapelle? Aber natürlich. Dann haben Sie ja eins der stärksten Beispiele für den Gebrauch der Perspektive gesehen - Petrus, Kranke durch seinen Schatten heilend. Das erste Gemälde der Renaissance, heißt es. Der Blick fällt herunter auf die Straße, und gleichzeitig kommt Petrus auf einen zu. Die Dinge bewegen sich auf dem Bild, der Schatten von Petrus bewegt sich. Masaccio hat das Chiaroscuro entwickelt, er war der Erste, der den Schattenwurf als Stilmittel eingesetzt hat. In Santa Maria Novella waren Sie natürlich, nicht?«
»Nein. Ich meine, noch nicht.«
Di Bada musterte sie, als hätte er zwei Häretiker vor sich. »Sie wohnen in Firenze und haben die Heilige Trinität nicht gesehen? Also, wenn Sie dorthin gehen, betrachten Sie die Heilige Trinität vom westlichen Seitenchor aus. Sie werden sehen, wie das großartige Deckengewölbe sich von Ihrem Standpunkt aus zu öffnen scheint. Es war Masaccios Ziel, seine Figuren in die Erdensphäre zu versetzen, um die Realität des Übernatürlichen anzudeuten. Ihr Blick begegnet dem Blick von Maria, verstehen Sie? Dieser Blick lässt die Überzeugung entstehen, dass sie präsent ist. Revolutionär.«
Die nun entstehende Stille war (wie Melrose hoffte) von gebührendem Respekt durchdrungen. Trueblood durchbrach sie schließlich, indem er sagte: »Ich hätte doch gern, dass Sie sich das Tafelbild noch mal ansehen, Signore Di Bada.«
»Wenn Sie möchten.« Di Bada ließ den Blick über die Heiligengestalt gleiten und ging sogar so weit, ein Vergrößerungsglas zur Hand zu nehmen, ein großes mit Horngriff. Dies ließ er über das Gemälde gleiten, wobei seine Augen wie kleine Pfeile flink hin und her huschten. Dann legte er das Vergrößerungsglas zurück an seinen angestammten Platz auf einem kleinen Bücherstapel und dachte eine Weile nach.
»Vielleicht sollten Sie Ihren Fall nicht auf die Meinung von einem wie mich stützen. Zugegeben, ich bin Experte. Aber es gibt jemanden, der vielleicht noch mehr weiß -«
Melrose versuchte, in seinem Sessel nicht noch tiefer hinunterzurutschen, was ihm jedoch nicht ganz gelang. Trueblood war natürlich ganz Ohr.
»- es handelt sich um Tomas Prada. Er lebt in Lucca. Es lohnt sich für Sie, ihm einen Besuch abzustatten. Tut mir Leid, dass ich Ihnen nicht weiterhelfen kann. Ich kann nur sagen, was ich vorhin schon gesagt habe - es ist so unwahrscheinlich, dass es von Masaccio ist...« Di Bada zuckte die Schultern.
Kopfschüttelnd fuhr er fort: »Masaccio hatte nichts. Er schuldete anderen Geld, er besaß nichts, hatte seine Kleider im Pfandhaus versetzt. Und doch - war er nicht einer der Erwählten? Ich bin manchmal neidisch auf diesen Geisteszustand, der die materielle Welt einfach vergisst. Nicht
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