Grimes, Martha - Inspektor Jury 17 - Die Trauer trägt Schwarz
nachahmte. Bei der eisernen Jungfrau drückte er sich die Finger gegen den Brustkorb, machte ein schmerzverzerrtes Gesicht und stieß dumpfe Schreie aus, während die Stacheln vermeintlich in sein Fleisch eindrangen. Vor dem Schraubstock (noch so ein originelles Heilmittel für Frauen mit losem Mundwerk) drehte der Junge die Hände nach hinten (inzwischen hatte er sein Eis aufgegessen), packte sich an der Gurgel und streckte die Zunge heraus. Ein paar Ausstellungsstücke später blieb er plötzlich wie erstarrt vor einem Ding stehen, das aussah wie ein elektrischer Stuhl, streckte die Arme aus und ließ seinen Körper ein paarmal krampfartig erzittern. Um als Nächstes vorzuführen, wie der Oberkörper im Metallkasten eingesperrt wird, während einem die Gliedmaßen abgetrennt werden, beugte er sich vornüber und setzte eine imaginäre Säge an seinen Arm, die er kratzend vor und zurück bewegte. Messer, Keulen, Schwerter, Ketten und Spitzhacken - alles wurde von ihm schauspielerisch interpretiert.
Der Kerl hatte eine Schwäche für Schmerz und Pein, dachte Melrose. Wo waren eigentlich seine Eltern? Im Keller, gefesselt und geknebelt? Das Museum war wirklich sehr unterhaltsam, und Melrose wunderte sich, wieso der Besitzer nicht mehr Eintritt verlangte. Auf einem Schild am Eingang wurde erklärt, dass es sich um eine Privatsammlung handelte. Kindern war der Zutritt nicht gestattet, da sie durch die ausgestellten Stücke vielleicht seelisch belastet werden
könnten. Seelisch belastet war dieser Junge allerdings nicht. Als der Rundgang zu Ende war, fanden sich Melrose und der Junge am Ausgang wieder.
Trueblood war schon hinaus spaziert, und nun sah Melrose auch zwei Erwachsene und ein Mädchen, die offensichtlich sehr besorgt und aufgeregt waren. Anscheinend Vater und Mutter des Jungen und seine Schwester.
Nachdem der Junge herausgekommen war, ging die Mutter gleich wie eine Furie auf ihn los: »Gerald! Ich habe doch gesagt, du sollst da nicht rein! Was hast du denn angestellt?«
Amerikaner. Na, das erklärte wohl alles.
»Nichts. Es war langweilig.«
Die Familie wandte sich um und ging davon. Doch für einen köstlichen, herrlichen Moment schaute der Junge über die Schulter zurück zu Melrose und zwinkerte ihm zu.
»Wissen Sie was«, sagte Trueblood, als sie wieder auf der Landstraße waren, »wir sollten Long Pidd in contrade aufteilen.« Er hatte einen kleinen Stadtführer von Siena erstanden und las daraus vor.
»Mir soll's recht sein, solange Theo Wrenn Browne und Agatha nicht in meinem sind.«
Trueblood warf ihm einen schneidenden Blick zu. »Haben Sie denn eigentlich überhaupt keine Ahnung von der Gegend hier?«
»Ich weiß das mittelalterliche Heilmittel gegen Klatschsucht.«
Trueblood knurrte unwirsch. »Also, contrade sind so etwas wie Stammeszuordnungen. In Siena gibt es deren siebzehn. Diese Aufteilung der Wohngebiete ist offenbar so alt wie die toskanische Hügellandschaft.«
»Was soll daran so toll sein? In London gibt es mindestens genauso viele: Chelsea, Battersea, Knightsbridge -«
»Nein, nein, nein. Das ist doch etwas ganz anderes. Das sind bloß geographische Aufteilungen, Postbezirke. Diese Wohngebiete sind sehr eng miteinander verbunden«, sagte er und umschlang dabei krampfhaft seinen Oberkörper, so dass Melrose fand, er hätte viel Ähnlichkeit mit dem Jungen von vorhin.
»Die Menschen stehen sehr loyal dazu, jede contrada hat ihre eigene Flagge, ihr besonderes Emblem - die Gans etwa oder den Elefanten -, und es herrscht extreme gegenseitige Konkurrenz.«
Siena blickte in der Abenddämmerung von seinem Hügel zu ihnen hinunter, voller kleiner, in Dunst gehüllter Lichter, ein kleines, erdverbundenes, schönes Städtchen.
Rasch wurde die Dämmerung von der Dunkelheit eingeholt, nachdem sie den Wagen wieder auf einem Parkplatz abgestellt hatten und mehrmals treppauf und treppab gestiegen waren. Sanfter Regen fiel, eigentlich mehr Dunst als Regen, während sie die Via Di Stalloreggi entlang in Richtung Duomo gingen. Ab und an blieb Trueblood stehen, um einen prüfenden Blick in den Stadtplan zu werfen, nickte dann und ging weiter.
»Wir suchen die Via Del Poggio«, sagte er und deutete auf eine kleine Tafel an einem Haus. »Sehen Sie?«
Melrose konnte etwas erkennen, das nach einer Schildkröte aussah. »Das hier ist also die Schildkröten-confrada?«
»Ich glaube nicht, dass sie es so bezeichnen.«
Sie fanden die Via Del Poggio. Über einer Tür befand sich ein kleiner
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