Grimes, Martha - Inspektor Jury 20 - Inspektor Jury kommt auf den Hund NEU
dass er es vielmehr mit seiner Anwesenheit beehrte. In seinem tadellos geschnittenen anthrazitgrauen Anzug wirkte er attraktiv, kühl und gesetzt - ein Image, das er zweifellos im Hinblick auf die Sensibilität seiner Patienten meisterhaft zu vermitteln wusste. Seine weiblichen Patienten, glaubte Jury, erfüllte es bestimmt gleichermaßen mit Hoffnung und Verzweiflung, dass er einerseits so zugänglich und dann doch wieder so absolut unerreichbar war. Das psychologische Phänomen der Übertragung musste die Patientinnen jedes Mal wie ein Hammerschlag treffen. Männliche Patienten ebenfalls, doch empfänden diese wohl eher Feindseligkeit - weil sie ihn hassten und aber auch, weil sie nicht sein konnten wie er.
Sein Name deutete auf einen mediterranen Hintergrund, möglicherweise hatte er spanische oder portugiesische Vorfahren. Vom Aussehen her besaß er jedoch etwas ausgesprochen Englisches mit seiner rosigen Haut, die besonders Engländerinnen so frisch und proper aussehen lässt, so hübsch von der Sonne beschienen.
Die Wand hinter dem Schreibtisch des Arztes war mit gerahmten Zeugnissen bedeckt. Seine akademischen Grade hatte er offenbar überall verliehen bekommen: in der Schweiz, in Sevilla, Oxford und anderswo.
Von seinem Platz hinter dem breiten Schreibtisch aus Rosenholz aus meinte Dr. Santiago: »Ich helfe Ihnen ja gern, so gut ich kann, Superintendent, über Harry Johnsons Sitzungen bei mir kann ich allerdings nicht sprechen.«
»Ich bitte Sie ja auch nicht um ein psychologisches Profil«, erwiderte Jury. »Wissen Sie, ich kenne den Mann. Wir hatten gesellschaftlich miteinander zu tun, haben uns mehrmals auf einen Drink getroffen und sind essen gegangen.«
»Harry ist ein sehr charmanter Mann, wie Sie zweifellos festgestellt haben.« Der Arzt setzte sein unvergleichliches, umwerfendes Lächeln auf.
»Harry ist ein Lügner und Manipulator, wie Sie zweifellos festgestellt haben. Er hat einen wahnsinnigen Narzissmus-Komplex. In allen Menschen, allen Gesichtern, die er sieht, scheint er nur sich selbst zu reflektieren.«
Dr. Santiago wirkte gleichermaßen überrascht und verstört. Er wurde todernst und lehnte sich, die Ellbogen auf den Schreibtisch gestützt, in seinem Drehstuhl vor. »Das beschreibt Harrys Zustand, als er hierherkam, eigentlich recht gut. Ich dachte aber, vieles von dem hätte sich inzwischen gelöst. Um ehrlich zu sein, ich fand, ich hätte bei ihm recht viel zuwege gebracht.«
»Haben Sie nicht.« Jury setzte nun seinerseits ein umwerfendes Lächeln auf, mit dem er die Bemerkung etwas entschärfen wollte. »Was aber bloß ein Beweis für Harrys unglaubliche Fähigkeit ist, alle hinters Licht zu führen.«
Der Arzt schüttelte den Kopf. »Ich meinte, >recht viel< in relativer Hinsicht. Ganz bestimmt nicht im Sinne von >geheilt<. Wäre es nach mir gegangen, hätte ich ihn länger hier behalten. Eigentlich« -kopfschüttelnd rollte Dr. Santiago das untere Ende seiner Krawatte auf - »war Harry überhaupt nichts.«
Jury sah ihn fragend an. »Wie meinen Sie das?«
»Sie sagen, er ist ein Lügner und Manipulator -« Der Arzt zuckte unmerklich die Schultern und rückte seine Krawatte zurecht. »Ich glaube, das ist bloß Fassade.«
»Sie glauben, das ist Fassade?« Jury musste unwillkürlich lachen. »Sie meinen, tief innen könnte Harry keiner Fliege etwas zuleide tun?«
Dr. Santiago musterte Jury mit seinen feuchten braunen Augen. »Ich meine, was Harry betrifft, so gibt es gar kein >tief innen<.«
»Seltsam, so etwas von einem Psychiater zu hören. Kann es sein, dass es Leute gibt, die ganz aus Fassade bestehen? Das scheinen Sie damit andeuten zu wollen.«
»Schon möglich. Es ist bloß ein anderer Ausdruck für >seicht<, oder?«
Jury ließ sich das durch den Kopf gehen, dann sagte er: »Seicht oder nicht, jedenfalls ist Harry eine tickende Bombe, Doktor.«
»Das ist in gewissem Sinn richtig, nur... « Er ließ den Satz unvollendet.
»Wollen Sie mir jetzt erzählen, er hatte eine miserable Kindheit?«
Dr. Santiago lächelte. »Ach, eine miserable Kindheit hatte doch jeder. Ob es nun so war oder nicht, wir sind doch alle dazu bestimmt, das zu glauben. Bleibt nur die Frage, in welchem Ausmaß, nicht?«
Jury dachte an seine eigene und blieb die Antwort schuldig.
»Bitte, Superintendent, Sie gehören doch nicht etwa zu jenen Reaktionären, die glauben, Freud habe sich total geirrt, oder?«
Jury antwortete wieder nicht, sondern fragte stattdessen: »Wie lange war er hier,
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