Grimm - Roman
überhaupt ernährt? Sie rief sich das Gesicht des alten Coppelius ins Gedächtnis, fragte sich, wie und wann er hierhergekommen war.
Sie ahnte, dass sie niemals eine Antwort darauf bekommen würde.
Denn mit einem Sprung kam das Männlein auf sie zu.
Vesper schrie auf.
Bevor der Körper des Männleins sie traf, schlug ihr der Gestank ins Gesicht. Der Gedanke, von dem ekligen Wesen berührt zu werden, erschreckte Vesper mehr als alles andere.
Leander rief ihr etwas zu.
Sie öffnete die Lippen, um Luft zu holen, und in diesem Moment wirbelten ihr tintenfeine Buchstaben aus dem Mund, winzig klein und filigran. Sie atmete etwas aus, was sich dem Männlein wie zu einer Wolke geballt entgegenwarf.
Dann zog Leander sie zur Seite, sodass das Männlein mit Schwung gegen die Wand neben der Tür prallte.
»Du bist eine von ihnen!«, kreischte es blind und wütend und hieb sich mit den Händen mitten ins Gesicht.
Wie gelähmt erkannte Vesper, dass sich die winzigen Buchstaben in die Haut des Männleins gruben. Blutige Rinnsale liefen ihm übers Gesicht. Die Buchstaben indes verschmolzen unter der bleichen Haut zu Wörtern, die sich tiefer und tiefer in den Körper des Männleins gruben.
»Es tut mir leid«, murmelte Vesper erschrocken. Sie zitterte am ganzen Leib.
»Komm, weg hier.« Leander zog sie aus der Zelle.
»Was habe ich getan?« Sie bebte.
Leander nahm sie in den Arm.
Vesper betrachtete den Ring an ihrem Finger. Ihre andere Hand tastete nach ihrem Mund.
»Was war das?«
»Ich weiß es nicht«, bekannte Leander.
Das Männlein wälzte sich wie tobsüchtig auf dem Boden herum. »Ich werde dich töten, du dummes Gör«, zischte es. »Und dann«, funkelte es sogleich Leander an, »werde ich sie fressen.« Es grinste. »Du kannst dabei zuschauen. Und wenn ich fertig bin mit ihr, dann fresse ich dich.« Erneut kratzte es sich mit den langen Fingernägeln die Haut im Gesicht auf. »Raus mit euch, raus, raus, raus!«, keifte es und versuchte die Buchstaben aus seinem Körper zu kriegen. »Ich werde euch fressen, und dann bin ich frei, frei, frei.«
Leander stieß angeekelt die Tür zu.
Vesper trat zurück bis an die gegenüberliegende Wand, wo sie stehen blieb und am ganzen Leib zitterte. Sie konnte gar nicht mehr damit aufhören. Ihr Körper hörte nicht länger auf sie.
»Das hab ich nicht gewollt«, stammelte sie.
Leander verriegelte die Tür. Das rote Lämpchen leuchtete erneut auf.
Dann nahm er Vesper wieder in den Arm, und es trat Stille ein.
Eine ganze Weile lang blieben sie regungslos stehen.
Vesper ließ sich ganz in der Umarmung versinken. Sie roch Leander und vergrub ihr Gesicht in seinem Haar. Sie spürte sogar seinen Herzschlag, der schnell und aufgeregt war. Sie ließ ihre Hand da liegen, wo es am lautesten
pochte. Sie lauschte und verharrte in dem Augenblick.
Es gab kein Gewölbe. Da war nur Wärme. Nähe.
Sein Herzschlag.
»Vesper«, flüsterte er ihren Namen, zärtlich und wie ein Geheimnis, das nur sie beide teilten. Sie hielt die Augen noch immer fest geschlossen. Sie weinte leise, dann laut.
»Es ist vorbei«, flüsterte ihr Leander zu. »Komm, wir gehen wieder nach oben.« Mit diesen Worten ergriff er Vespers Hand und führte sie zurück in den oberirdischen Teil des alten Refugiums, und keinem von ihnen gelang es zu reden.
Wintermärchen
D er Augenblick, in dem die Dämonen der Vergangenheit auf die unklaren Geister kommender Tage treffen, ist zuweilen jener Moment, der einen durch die Tränen im Herzen an Wunder glauben lässt.
»Dich trifft keine Schuld«, sagte Leander. Er war ihr so nah. Beinah, dachte sie, hätte er sie erneut geküsst. Doch jetzt war er nur hier neben ihr und war ebenso verwirrt wie sie.
»Es geht schon wieder.« Trotzig wischte sie die Tränen fort.
Ja, Vesper war noch immer schockiert.
Das Wesen, der Goldspinner , hatte sie erkannt.
Sie stellte erschrocken fest, wie wenig man doch über die eigenen Großeltern wusste. Ihr Großvater - Wilhelm Gold - war Schauspieler gewesen, ja. Sie kannte einen oder zwei seiner Filme, aber eigentlich hatte sie sich nie sonderlich für ihn interessiert, zumal er die Familie all die Jahre über gemieden hatte. Maxime hatte nie ein gutes
Verhältnis zu seinem Vater gehabt. Doch jetzt, da sie hier war, fragte sie sich, wo ihr Großvater sich damals im Jahr 1931 herumgetrieben hatte. Er war nicht immer in Berlin gewesen. Sie rechnete zurück. Wilhelm Gold war damals gerade mal siebzehn Jahre alt gewesen. Meine Güte,
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