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Grimm - Roman

Titel: Grimm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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leise.
    Dann öffnete sie den Sehschlitz und spähte ins Innere der winzigen Zelle.
    Der Boden war überall mit einer grauen Masse bedeckt, die einmal Stroh gewesen sein mochte. Weiter hinten, in der Ecke, kauerte eine kleine Gestalt. Sie sah sehr kindlich aus. Rotes Haar fiel ihr struppig und strähnig bis über den Rücken und in das schmutzige bleiche Gesicht. Die Gestalt war in Lumpen gekleidet, ihre mageren Finger sahen wie Krallen aus.
    Was immer es auch war, es strich sich die Haare aus dem Gesicht, und tränennasse Augen, groß und unschuldig, blickten Vesper an. »Hiiiilf miiir«, wimmerte es mit einer Stimme, die gequält und leidend anmutete. »Geh nicht fort. Biiiiitte.«
    Ratlos starrte sie die Gestalt an. Sie spürte Leanders Atem an ihrem Hals.
    »Was, in aller Welt, ist das?«

    Leander, der ebenso fassungslos war, antwortete nur: »Ein Goldspinner.«
    Das Wesen war mit Ketten an den Füßen gefesselt. Man hatte es an die Wand gekettet.
    Hilfesuchend streckte es die Hände aus.
    Leander hatte offenbar Mitleid und entriegelte die Tür. Mit einem leisen Knarren schwang sie auf.
    Vesper verzog das Gesicht. Ein widerlicher Gestank nach Exkrementen und Urin stach ihr in die Nase. Überall auf dem Boden lag Schmutz. Die Kreatur auf dem Boden starrte sie nur an.
    »Wer bist du?«, fragte sie das Männlein.
    Furchtsam wich es so weit nach hinten zurück, wie es ging, bis zur weiß gekachelten Wand. Wachsam beäugte es das Mädchen, das da eben in seine Zelle gekommen war. »Ich habe meinen Namen vergessen«, krächzte es. »Ist einfach so passiert. War eben noch da, dann war er weg. Aber was sind schon Namen? Hat doch jeder, so einen Namen.«
    Es wirkte verwirrt.
    »Warum hat man dich eingesperrt?« Vesper sprach ruhig und langsam mit ihm.
    »Eingesperrt?« Es begann zu kichern. »Wer bist du, dummes Gör, dass du das nicht weißt?«
    »Sag’s mir.«
    Es rieb sich die Hände, schnappte nach einer fetten Spinne, die langsam über den Boden wuselte, steckte sie sich zwischen die Zähne und zermalmte kackend den Körper. »Hm, ja, lecker, lecker, wirklich«, grummelte es. »Du
solltest Spinne versuchen. Ist besser als die Asseln.« Es verdrehte die Augen. »Nicht mal Ratten kommen hier rein.«
    Vesper musterte die Fesseln und tat einen weiteren Schritt in die Zelle hinein. Sie schätzte die Länge der Kette, die am Boden lag, und achtete sorgsam darauf, dem kleinen Männlein nicht zu nahe zu kommen.
    »Bist gekommen, um mich zu holen, was?«
    Sie hatte keine Ahnung, was das kleine Männlein meinte, wenngleich ihr die Instrumente auf den Metalltischen nicht aus dem Sinn gehen wollten. »Ich bin hier fremd.«
    »Du siehst aus wie der Mann, der mich eingesperrt hat«, fauchte es. »Ja, du hast seine Augen.« Es würgte und erbrach Spinnenteile auf den Boden. »Dummes Gör, du hast seine Augen, sein Gesicht. Siehst aus wie der Mann als Frau, jünger nur, viel, viel jünger, aber immer noch das gleiche Gesicht, du kannst mich nicht täuschen.«
    Erschrocken blieb Vesper stehen.
    Sie wusste nicht, was sie von dieser Attacke halten sollte. Klar doch, das Männlein wahr wahnsinnig, vermutlich, aber da war Furcht in seinen Augen, tief unter dem Wahn verborgen und doch offensichtlich.
    »Wer hat dich eingesperrt?«, fragte Leander.
    »Dich kenn ich nicht.«
    Er wiederholte seine Frage, ganz behutsam. »Wer hat dich eingesperrt?«
    Es legte den Kopf schief, schaukelte mit dem Oberkörper hin und her. »Weiß nicht mehr, ist lange her. Lange, lange, lange. Habe gewittert, dass es Krieg geben wird. Bin abgehauen. Fort von hier. Böses, böses Land. Alles
war böse geworden. Soldaten, Menschen, sogar Kinder.« Es sabberte beim Reden, und die Überreste der zerkauten Spinne benetzten ihm die blutleeren Lippen. »Überall nur Feuer und Hass und Uniformen. Wollte fort, in ein fernes Land. Rauf aufs Schiff, ab übers Meer, fort aus dem bösen Land.«
    Vesper dachte an das Schild an der Tür.
    13. März 1931.
    »Du hast geahnt, dass ein Krieg kommen wird?«
    Es nickte nervös. »Habe den ersten Krieg gesehen. Wusste, wie Krieg riecht, deswegen wollte ich fort.« Seine Augen wanderten wie irre hin und her. »Dumme Zwerge, alles verdanken wir ihnen. Blöde Maschinen, pah, so ein Dreck. Alles nur, um Krieg zu machen. Ja, ja, ich wusste, wie das riecht. Deswegen bin ich aus dem Versteck gekommen und zum Hafen gelaufen. Da hat er mich dann eingefangen.«
    »Wer?«
    »Na, wer denn wohl? Dummes, dummes, dummes Ding. Der Mann, der dein

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