Grimm - Roman
Gesicht hatte, natürlich, wer denn sonst?!« Das Männlein fauchte böse. »Dreckskerl, hat mich geschlagen.«
Leander stand jetzt neben Vesper.
»Dich kenn ich nicht«, sagte das Männlein ein zweites Mal. »Nur das dumme Gör da. Ich kenne ihr Gesicht. Bäh!« Es spie den Rest der Spinne aus und fuhr mit dem Finger durch die klebrige Masse, die sich mit dem Stroh vermischte.
1931?
Vesper fragte sich, wo ihr Großvater damals gelebt hatte. Konnte es sein, dass er …?
Ihr schwindelte.
Plötzlich wurde ihr unendlich übel.
»Warum haben sie dich eingesperrt?«
Das Männlein hieb wütend mit den geballten Fäusten auf den Boden. »Warum wohl, blöde Kuh. Weil ich bin, was ich bin. Sie sperren alle ein, die so sind. Deswegen verstecken wir uns. Aber sie kriegen uns trotzdem.« Es blickte zu Boden. »Haben sie alle gekriegt, ja, ja. Keiner ist mehr da.« Es hielt inne, lächelte verschmitzt und rieb sich die Hände. »Aber wir finden schon einen Weg, den haben wir immer schon gefunden.«
»1931. Du bist seit achtzig Jahren in dieser Zelle?«, fragte Leander vorsichtig.
»Sie haben mich vergessen«, keifte das Männlein. »Sind alle gegangen, die hier waren. Böse, böse Menschen.« Es kicherte wie von Sinnen. »Haben sich aus dem Staub gemacht, als der Krieg kam. Sind vielleicht gestorben, wer weiß, wer weiß. Komische Sachen passieren, wenn Menschen andere Menschen umbringen.« Es knurrte, weinte, jammerte. »So sind die aber. Böse, böse.« Es hustete, spukte auf den Boden. »Ein mal eins gibt eins. Später kam manchmal wieder jemand her, hat sich uns aber nur angeschaut und ist dann gegangen.« Es hustete. »Alter Mann mit dichten Haaren im Gesicht.«
Vesper musste an Friedrich Coppelius denken.
»Hat mir manchmal Futter gebracht. Abfall, Almosen, pah!«
»Wer bist du?«
Das Männlein legte den Kopf schief.
Goldspinner.
Vesper hegte einen Verdacht, doch … war das möglich?
»Die anderen sind alle verreckt«, kicherte es hysterisch. »Ja, ja, sie haben sie einfach vergessen. Sind verhungert oder auch nicht. Haben geschrien, oh, sie haben so laut geschrien, aber niemand ist mehr gekommen. Sie haben uns einfach hier unten vergessen.« Es senkte den Blick, fettiges strähniges Haar klebte ihm im Gesicht. »Der Fuchs in der anderen Zelle, Meister Reinecke, ja, so hieß er, ihn haben sie vor mir gefangen. Hat immer nur dumme Lieder gesungen und gewinselt. Ja, am Ende konnte er nicht mal mehr laufen. Hat sich selbst die Pfoten abgenagt, so hungrig war er. Ja, ja, so war das. Am Ende haben sie alle geschrien. Und der Wandler unten im Gang verlor seine Form.« Es kicherte haltlos weiter. »Wusste nicht mehr, was er wirklich war. Ein Mensch oder ein Frosch oder eine Mischung aus beidem. Ist zerflossen, damals, ist lange, lange her. Was für eine Schweinerei. Hat so gestunken, selbst bis in meine Zelle, ja, ja, so war das.«
Vesper verzog das Gesicht. »Aber du lebst noch.«
»Sieh mich an«, wimmerte das Männlein. »Ich verkehrte einst an den Höfen der Könige.« Es kicherte. »Habe ihnen Stroh zu Gold gesponnen.« Es rieb sich die Hände. »Hat die Weibsbilder beeindruckt, oh ja.« Es kratzte sich die Haut blutig und leckte dann an der Wunde. »Doch was nützt mir das jetzt noch, hm? Kann Gold nicht fressen.«
Es legte den Kopf schief. »Frauen, die könnte ich fressen«, sagte es und zwinkerte Vesper zu. »Junges Fleisch, lecker, lecker, würde es nicht mal mehr zubereiten, so hungrig bin ich. Würde es roh essen, fleischig, weich.«
Leander trat einen Schritt vor. »Du bist …«
»Ha!«, kreischte das Männlein. »Ich reiß dir die Augen aus, wenn du meinen Namen sagst!«
Vesper legte eine Hand auf seine Schulter. »Ich weiß, wer du bist«, sagte sie zu dem Männlein.
Aber sie wusste nicht, was sie mit ihm tun sollte.
Doch dann, bevor sie einen weiteren Gedanken fassen konnte, überstürzten sich die Ereignisse.
Das Männlein riss sich los.
Schneller, als Leander oder sie zu schauen vermochten. Die Ketten waren, das erkannte Vesper, nicht mehr richtig in der Wand verankert gewesen. In Laufe der Jahre hatte das Männlein sie gelöst, die schweren rostigen Verankerungen aus dem Mauerwerk herausgekratzt, mit Fingern und Nägeln und der Willenskraft eines Verrückten. Es hatte sie bisher nur geschickt getäuscht, damit sie die Zellentür öffneten.
Damit sie eintraten.
Jetzt kreischte es.
Tobsüchtig.
Hungrig.
Wovon, fragte sich Vesper plötzlich, hat es sich in all den Jahren
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