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Grimm - Roman

Titel: Grimm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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so alt wie sie heute. War es möglich, dass er hier in Hamburg für die Bohemia gearbeitet hatte, noch bevor er Schauspieler wurde?
    Sie zauderte.
    Zitterte.
    Dann hatten sie die lange Treppe endlich hinter sich gebracht und waren oben im Refugium.
    Andersen stand frustriert vor den beiden Computern. Er hatte beide Hände in den Hosentaschen vergraben und räkelte sich. »Nichts«, sagte er. Dann drehte er sich um, sah in ihre Gesichter. »He, was ist los?«
    Leander berichtete ihm von dem Gewölbe und von allem anderen auch.
    »Man hat sie einfach so dort unten sterben lassen?« Andersen konnte es nicht glauben. »Warum?«
    Vesper sagte nichts.
    Der Gedanke, dass ihr Großvater etwas mit dieser Sache zu tun gehabt haben könnte, war ihr zutiefst zuwider. Sie konnte gar nicht daran denken, ohne dass ihr schlecht wurde.
    Sie hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen.
    Was war hier nur geschehen?
    Dies alles hatte nichts Märchenhaftes. Es war real, grausam, ungerecht.

    »Warum?«, fragte sich Andersen erneut.
    Selbst Edgar, der sich ruhig auf einem der Stühle zusammengekauert hatte, sah traurig aus.
    Vesper ging zu ihm hin und streichelte ihn. Er war, dessen war sie sich jetzt ganz sicher, ein Wesen wie diejenigen, die dort unten im Verlies gestorben waren. Daher sein hohes Alter und sein gleichsam nostalgisches Aussehen. Sie streichelte ihn, weil das alles war, was sie tun konnte. Sie wusste, dass sie das Unrecht, das irgendwann in diesen Mauern geschehen war, nicht wiedergutmachen konnte. Dennoch versuchte sie es auf diese ungeschickte kindliche Art zu tun.
    »Es tut mir so leid«, flüsterte sie Edgar zu.
    Das Äffchen sah sie mit dunklen Kulleraugen an und nickte, als habe es sie verstanden.
    Jonathan Andersen rieb sich derweil müde die Augen. Zum ersten Mal, seit er so überraschend und spektakulär in ihrem Leben aufgetaucht war, wirkte er erschöpft und ausgelaugt. »Sie hätten das alles womöglich auch mit ihm gemacht«, sagte er leise und sah Edgar an, der den Kopf nach hinten reckte, damit Vesper ihn besser am Hals kraulen konnte. »Vielleicht waren das die Praktiken, die meiner Familie nicht gefallen haben«, sagte er mit erstickter Stimme.
    Vesper senkte den Blick.
    »Ich habe den Goldspinner verletzt«, sagte sie. »Dabei wollte ich es gar nicht tun.«
    Jonathan Andersen schüttelte nur resigniert den Kopf. »Mach dir keine Gedanken. Wir sind, was wir sind.«

    Sie sah ihn wütend an.
    Das war alles, was er dazu zu sagen hatte?
    Wir sind, was wir sind?
    »Kaum dass ich euch in Blankenese den Wagen überlassen hatte«, erinnerte er sich, »da habe ich den Wolfsschemen etwas Ähnliches angetan.« Schatten lagen ihm in den Augen.
    »Sie können das auch?«
    »Ja.«
    »Wie machen Sie es?«
    Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Es bricht aus mir hervor, wenn ich in Not bin.«
    Leander ging unruhig im Raum auf und ab. »Einfach so?«, fragte er.
    »Ja«, antwortete Andersen, »einfach so.«
    »Bei mir klappt das nicht«, bekannte Leander.
    »Doch, ich bin sicher, dass du es auch kannst.« Jonathan Andersen rieb sich erneut die Augen. »Wir alle können es. Du hast es bisher bloß noch nicht getan.«
    Vesper versuchte sich vorzustellen, wie er die Wolfsschemen am Elbufer in Blankenese bekämpft hatte.
    Sie tätschelte Edgar den Kopf, und dann setzte sie sich in einen der Sessel, seufzte, starrte das Gemälde an.
    Das Eismeer.
    Was war damals wirklich im Packeis geschehen? Was, zur Hölle, hatte von Humboldt in dieser Eiswüste getrieben?
    Nichts als Fragen über Fragen und noch immer keine Antworten in Sicht.

    Darüber hinaus war sie sich trotz Andersens Erklärungen nach wie vor im Unklaren über ihre Fähigkeiten. Waren da wirklich Buchstaben aus ihrem Mund entwichen? Sie hatte nicht einmal etwas gesagt, nur gedacht . Ja, sie hatte Dinge gedacht . Nichts sonst.
    Geh fort von mir! Fass mich nicht an!
    Panikartige Gedanken eben. Sie war angegriffen worden und … sonst nichts, das war alles.
    Und dann war es geschehen. So ähnlich wie in Blankenese.
    Nein, sagte sie sich eilig, nicht so ähnlich. Diesmal war es anders gewesen. Intensiver. Da war kein Buch gewesen, nur sie selbst.
    Sie berührte den grünen Stein an ihrem Ring.
    Der Ring.
    Leander besaß ganz sicher die Taschenuhr. Andersen den Anhänger. Alle versehen mit einem grünen Stein.
    Was, verdammt noch mal, hatte das nur zu bedeuten?
    Sie spürte, dass es da einen Zusammenhang gab, der wirklich wichtig war. Es war nicht das Refugium,

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