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Grimm - Roman

Titel: Grimm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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dachte sie laut.
    Leander stimmte ihr zu.

    Beide lauschten sie und vernahmen ein wummerndes Geräusch.
    »Das sind Pumpen«, sagte Leander. »Wir befinden uns also weit unter dem Fleet.«
    »Vielleicht wurde dieses Gewölbe mit einer ähnlichen Technik erbaut wie der Elbtunnel.«
    Leander nickte nur.
    Langsam ging er zu einer der Türen hin. Prüfte sie, indem er dagegenklopfte. Ein Geräusch wie von hohlem Metall ergoss sich in die frostige Stille.
    In kleinen Metallfächern, die neben den Türen angebracht waren, steckten schmale Schilder aus Pappe und Papier mit handschriftlichen Notizen. Einige davon in Sütterlin, der Schrift, die ihre Großmutter benutzt hatte.
    Vesper trat ebenfalls näher.
    Neben den Namen standen Daten.
    Allerleirau, 13. April 1897.
    Sie hatte keinerlei Ahnung, was das zu bedeuten hatte. Sie schritt die nächsten Türen ab. Dort standen weitere Begriffe:
    Klapperer, 7. Mai 1968.
    Schlangenblatt, 19. August 1911.
    Melusinenkind, 4. Januar 1987.
    Moorjungfrau, 23. Juni 1876.
    In den Türen befanden sich Sehschlitze, die man mittels eines schmalen Schiebeverschlusses öffnen konnte.
    Vesper öffnete den, dem sie am nächsten stand.
    Spähte in eine der Zellen hinein.
    »Und?«

    »Sie ist leer.«
    Auf dem Schild stand Giftfee, 1. Dezember 1888.
    Leander sah verwirrt aus. Zweifelsohne war dies ein Verlies, ein Kerker, der seit Jahren schon verlassen war. »Was«, flüsterte er, und seine Stimme klang wie das furchtsame Wispern des Windes, »hat man hier unten nur eingesperrt?«
    Er fand einen weiteren Lichtschalter, gleich neben dem Schloss, und plötzlich flutete grelles Licht die Zelle.
    Da sahen sie es.
    In einer Ecke der Zelle lag eine zusammengekrümmte Gestalt. Sie war nur mehr ein Skelett.
    »Sind das Flügel?«, fragte Vesper erschrocken.
    Leander spähte durch den Spalt. »Ja«, sagte er.
    Ein ungutes Gefühl bemächtigte sich Vespers. »Was ist das hier für ein Ort?«, fragte sie und wusste insgeheim, dass sie die Antwort gar nicht wissen wollte. Sie wollte nicht erfahren, was wirklich in der Welt vor sich ging. Sie wollte wieder ein Kind sein und wohlbehütet in einer Familie leben, das war alles. Es war ein ganz einfacher Wunsch, doch sie wusste, dass man die Zeit nicht zurückdrehen konnte. Niemals wieder würde sie ihr altes Leben führen können. Alles hatte sich verändert, und das, was sie hier sah, war nur die Spitze eines Eisberges, den zu entdecken sie sich gerade erst aufgemacht hatte. Sie wollte sich verkriechen und alles vergessen. Doch stattdessen musste sie an die Geräte denken, die oben auf den Metalltischen lagen. Die Zangen und Nadeln und namenlosen Geräte, die spitz schmerzende und blutig schreiende
Dinge würden tun können, wenn man sie ohne Skrupel benutzte. Sie dachte an Gummihandschuhe und den Geruch von Desinfektionsmittel, an einen weißen Mundschutz und gnadenlose Augen, die im Licht einer grellen Lampe nicht einmal blinzelten.
    Sie ergriff Leanders Hand.
    Verwundert schaute er sie an. »Ist das der richtige Augenblick?«, fragte er in seinem scherzhaften Tonfall.
    »Ja«, flüsterte sie nur.
    »Dachte mir schon, dass du eher etwas ungewöhnlich bist.«
    Sie sah ihm in die Augen. »Ich habe Angst«, sagte sie.
    Etwas hier unten war nicht richtig. Das Refugium war nicht das, was sie sich vorgestellt hatte.
    »Die Zellen sind alle verriegelt«, sagte er. Vesper fragte sich, wen er damit zu beruhigen gedachte.
    Gerade wollte sie etwas erwidern, als ein lautes Kreischen die Stille zerriss.
    Es klang wie von einem Tier, das vor Wahnsinn zu reden verlernt hat.
    »Hast du das auch gehört?«, fragte Leander.
    Sie ließ seine Hand los und schlug ihm scherzhaft auf die Schulter. »Lass das«, schimpfte sie. »Ich habe mich zu Tode erschreckt.«
    Das Kreischen zerschnitt erneut die Stille im Gewölbe.
    »Hört, hört«, murmelte er, »ich glaube, ich rieche was.«
    Sie sah ihn angespannt an. »Lass es einfach!«
    Er wirkte bleich. »Es kommt von da vorn.« Leander ging zu einer Tür weiter hinten im Gewölbe.

    Vesper folgte ihm.
    Sie starrte das Schild an.
    Dort stand: Goldspinner, 13. März 1931.
    Vesper hatte wirklich gar kein gutes Gefühl bei der Sache. Nein, überhaupt nicht. Sie wusste nicht, was ein Goldspinner war, aber vertrauenswürdig hörte es sich nicht an, was immer es sein mochte.
    »Schauen wir nach?«, fragte Leander.
    Sie nickte nur.
    Etwas anderes hätte er als Antwort gar nicht akzeptiert.
    Also - wir folgen der Spur aus Rosenstaub, dachte sie

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