Grimm - Roman
wachsam zu dem Range Rover zurück, der noch immer auf einem der Parkplätze unterhalb der Landungsbrücken stand.
»Bevor wir losfahren«, sagte Vesper auf dem Weg dorthin, »muss ich noch eine Freundin besuchen.« Sie verlieh diesem Wunsch Nachdruck, indem sie ein Gesicht machte, das keinen Widerspruch duldete.
»Und wir können in der Zwischenzeit alles besorgen, was wir für die Reise brauchen.« Leander zählte Dinge wie Wanderschuhe, Handschuhe und Ähnliches auf. »Immerhin fahren wir in den tiefen, tiefen Winterwald.«
Vesper, die immer noch kein gutes Gefühl bei der ganzen Sache hatte, ließ es dabei bewenden. Würde sie eben
in den Harz fahren. Vielleicht war dies wirklich die Spur aus Rosenstaub, der sie folgen sollte. Leander jedenfalls schien vollkommen von der Richtigkeit ihrer Entscheidung überzeugt zu sein. Und selbst wenn es nur eine Flucht nach vorn war, so war dies doch besser, als nur abwartend und untätig herumzusitzen.
Nun gut.
Gesagt, getan.
Andersen und Leander ließen sie in der Neustadt vor dem Haus, in dem Ida Veidt wohnte, aussteigen.
»Zwei Stunden«, versprach Andersen. »Dann fahren wir los.«
»Ieck«, sagte Edgar, der hinten bei Vesper gesessen hatte.
»Ruft mich an«, sagte Vesper, schlug die Tür hinter sich zu und ging über die Straße. Der Range Rover fuhr los, und sie konnte hinter den schwarzen Fenstern nicht erkennen, ob Leander sich nach ihr umgeschaut hatte.
Die Haustür war, wie immer, offen.
Klapprige Fahrräder standen an der Wand im Treppenhaus aufgereiht, die Treppe selbst roch nach Putzmittel und Holz. Zeitungen lagen auf dem Boden, auf den ersten Seiten die Schlagzeilen des Tages wie Zukunft ohne Kinder ? Und Wie wahr sind die Träume ?, dicht gefolgt von Regierung ratlos , Die Welt verzweifelt und Ist das unser Ende?
Irgendwo hörte jemand leise klassische Musik. Unaufdringlich und betörend entrückend floss sie durchs dunkle Treppenhaus nach unten, plätscherte nur so die Stufen hinab.
Vesper stieg bis nach oben in den fünften Stock. Das Holz knarrte unter ihren Schritten.
Als sie klopfte, dauerte es nicht lange, bis Ida ihr öffnete.
»Vesper?«
»Hi!« Fast fühlte sie sich verlegen.
»Was machst du denn hier?«
»Hatte ich nicht versprochen, dich zu besuchen?!«
Dann trat sie ein.
Idas Wohnung war nicht sehr groß, zwei Zimmer, eine winzige Küche, ein schmales Bad. Überall türmten sich Krimskrams, Klamotten und Kinderspielzeug. Sie war die konsequente Weiterentwicklung einer Studentenbude. An den Wänden hingen Plakate von Theaterstücken und Deutschrockbands.
Vesper nahm ihre Freundin in die Arme und drückte sie fest an sich. »Wie geht es dir?«
»Es ist nicht aufgeräumt«, entschuldigte sich Ida. »Ich kam noch nicht dazu.«
»Machst du Witze?! Wann bist du zum letzten Mal in meiner Wohnung gewesen?«
Ida musterte sie besorgt. »Wann bist du das letzte Mal in deiner Wohnung gewesen.«
Vesper zuckte die Achseln. »Sehe ich so schlimm aus?«
»Du siehst aus wie jemand, der sich viele Sorgen macht.«
Sie schloss die Tür hinter sich.
»Da sind wir wohl schon zu zweit.«
Sie sahen einander an. Wussten beide nicht, was sie darauf sagen sollten.
»Und Greta?«
»Sie schläft noch immer.«
Ida führte Vesper ins Wohnzimmer, wo die Kleine auf der Couch schlief. »Es ist besser, wenn sie hier bei mir liegt. Das Zimmer ist heller, weil hier das Licht der Straßenlaternen zu sehen ist.«
»Du hast nicht geschlafen«, stellte Vesper fest.
Ida schüttelte den Kopf. »Ich habe Angst davor, wieder einen der Träume zu haben.«
»Aber du musst schlafen. Du kannst nicht ewig wach bleiben.«
»Sag mir was Neues.«
»Ida, du musst schlafen.«
»Ich kann nicht.«
»Auch nicht für zwei Stunden?«
Sie schaute interessiert auf.
»Ich bleibe bei dir.« In aller gebotenen Kürze erzählte Vesper Ida von Leander, den Wölfen und Andersen. »Wir fahren in den Harz, kein Scheiß. Wir haben noch zwei Stunden, bis sie mich wieder hier abholen.« Sie fragte sich, wie verrückt das alles wohl in Idas Ohren klang, aber am Ende war es egal, wie verrückt es sich anhörte.
»Das würdest du tun?«
Vesper kratzte sich am Kopf. »Sind das etwa Läuse oder die allerersten Anfänge eines Heiligensscheins?«, fragte sie.
Beide lachten, wenn auch nicht so ausgelassen wie früher einmal.
»Du kennst dich in der Wohnung aus«, sagte Ida.
»Keine Bange, ich weiß, wo der Kühlschrank steht.« Sie lächelte und stellte fest, dass sie
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