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Grimm - Roman

Titel: Grimm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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gelebt hatte. Doch das war nun vorbei, wie vieles andere auch. Die Bibliothek war den Flammen zum Opfer gefallen, und die Großmutter hatte vor Gram die Augen geschlossen, noch bevor die nächste Silvesternacht auch nur genaht war.
    »Der Vater des kleinen Mädchens«, flüsterte Vesper, »war von wütenden Männern in abgetragenen Uniformen abgeholt worden, mitten in einer Nacht. Das war schon lange her. Und seine Mutter war eines Tages nach der Arbeit in der Fabrik nicht mehr nach Hause zurückgekehrt.«
    Seit jenen Tagen irrte das Mädchen durch die Stadt. Es lebte von dem, was die Straßen ihm gaben, und bangte jede Nacht darum, einen Unterschlupf zu finden, der ihm Schutz vor der Kälte bot. Die Bücher, die es fand, tauschte es gegen Münzen oder Essen, und jedes Mal, wenn es eines der Bücher fortgab, da glaubte das Mädchen eben jenen Schmerz zu spüren, der ihrer Großmutter den Lebensmut geraubt hatte. Heute jedoch hatte dem Mädchen niemand ein Buch abgekauft, denn die Menschen wollten feiern und nicht lesen, in der Silvesternacht. Bitterster Hunger nagte an dem Körper des Mädchens, der ganz schwach und dünn war und kaum mehr mit dem Winter zu kämpfen vermochte.

    Ja, es war die Silvesternacht, und hinter den Fenstern feierten die Menschen.
    »Du kennst Silvester. Weißt du noch, letztes Jahr hast du mit Ida vom Balkon aus Raketen gezündet?«
    Greta sagte nichts.
    »Genau so eine Nacht war es, musst du wissen.«
    Das Mädchen hörte Musik und Lachen und erinnerte sich an das Leben von einst.
    In einer schmalen Gasse hatte das Mädchen eine Zuflucht gefunden, inmitten eines Schutthaufens, wo Steine zu einer Art Unterschlupf aufgetürmt worden waren. Dort hockte die Kleine und betrachtete die Schneeflocken, die dicker wurden, je tiefer es Nacht wurde. Neuen Wind und immer mehr Eis brachte die Silvesternacht, und bald schon bot der Unterschlupf keinen Schutz mehr vor der beißenden Winterkälte.
    »Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie kalt es da war.«
    In seiner Verzweiflung jedenfalls griff das Mädchen schließlich zu den Schwefelhölzern, die es besaß, und einem zerfledderten Buch, das einst jemandem gehört hatte, der sich in den Geschichten darin verloren hatte. Schweren Herzens zündete das Mädchen das Buch an und wärmte sich an den zögerlich im Wind züngelnden Flammen, die alle Buchstaben fraßen und sämtliche Seiten sich krümmen und schließlich zu Asche zerfallen ließen. Und als die Flammen das Buch verzehrt hatten und die Eiseskälte erneut herangeschlichen kam, da zündete das Mädchen ein weiteres Buch an. Viele der Geschichten, die da von den Flammen verzehrt wurden, kannte das Mädchen, und viele, die kannte es nicht. So weinte das Mädchen, denn es wusste, dass jene Geschichten niemals mehr wiedergeboren werden würden. In den zuckenden
Flammen sah das Mädchen die Bilder längst vergangener Tage, Menschen, Orte. Bittere Tränen rannen dem Mädchen über das Gesicht. Denn noch vor Mitternacht waren alle Bücher und Geschichten in den Flammen gestorben und auch der Sack verbrannt.
    »Nur ein einziges Buch war noch übrig.«
    Das Mädchen hielt dieses letzte Buch in den Händen, als sei es ein Schatz, so voller Geschichten und Erinnerungen, dass niemand sonst seinen Wert würde ermessen können.
    »Es war das Buch mit den Wintermärchen, aus dem die Großmutter dem Mädchen immer vorgelesen hatte.«
    Das Buch, das die alte Frau aus den Flammen der Bibliothek gerettet und ihrer Enkelin zum Geschenk gemacht hatte.
    Nein, niemals würde sie dieses Buch verbrennen, nein! Eher schon wollte sie kläglich erfrieren.
    »Ja, so dachte das Mädchen. Denn es hatte einen Dickschädel, so wie du, kleine Greta.«
    Es nahm sich mit aller Kraft vor, es nicht zu verbrennen. Doch dann stürmte neuer Schnee in die Gasse, und schärfere Kälte biss dem Mädchen in die Haut. Die letzte Zuversicht des Mädchens gefror zu Eistränen, und am Ende entzündeten die steifen blauen Finger das allerletzte Schwefelholz, und der winzigen Flamme, die entstand, bot das Mädchen das Einzige an, was es noch besaß.
    »Das Buch der Großmutter.«
    Und mit jeder Seite, die das Mädchen aus dem Buch herausriss, bot es den Flammen einen Teil seines Herzens an. Mit jeder Seite, die sich in der Gluthitze des Feuers krümmte, starb die Hoffnung ein wenig mehr.

    Doch dann, mit einem Mal, vernahm das Mädchen die Stimme der Großmutter, die ihm eine Geschichte zuf lüsterte, wie sie es früher immer getan

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