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Grimm - Roman

Titel: Grimm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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tatsächlich hungrig war.
    Ida umarmte sie erneut, dann ging sie nebenan zu Bett.
    Vesper öffnete den Kühlschrank, strich sich Kräuterquark auf eine Scheibe Toast, legte zwei Tomatenscheiben darauf und knabberte daran, während sie am Fenster stand und die Stadt betrachtete. Hamburg war zu einem Lichtermeer geworden. Alles sah so aus wie immer, doch nichts war mehr so, wie es noch vor zwei Tagen gewesen war. Vesper dachte an die Wölfe, die jetzt dort unten durch die Gassen und Straßen zogen, beharrlich auf der Suche nach den drei Menschen, die etwas mit der Bohemia zu tun hatten. Sie dachte an den Goldspinner und die drei Schlüssel. Konnte es nicht sein, dass die Mythen versuchten, ihre gefangenen Artgenossen zu befreien? Vielleicht wollten sie nur deswegen so hartnäckig in den Besitz der Schlüssel gelangen?
    Sie seufzte.
    Immer wieder dieselben Fragen.
    Am Ende waren es nur Vermutungen, die sie da anstellte. Nichts, was sie in irgendeiner Richtung weiterbrachte.
    »Hallo, du«, sagte sie leise und ging zur Couch, auf der Greta regungslos lag und schlief.
    Greta sagte nichts.
    Vesper setzte sich behutsam neben Greta auf die Couch, die quietschte. Der Atem des kleinen Mädchens ging ruhig. Die Augen hatte sie fest geschlossen, und nur manchmal, da zuckten ihre Lider unruhig, so als flatterten böse Träume dahinter umher.

    Vesper strich ihr zärtlich übers Haar.
    Dachte daran, dass ihre Schwester das oft bei ihr gemacht hatte.
    Oh, Amalia.
    Es ist alles wahr.
    Das waren ihre letzten Worte gewesen.
    Vesper schloss einen Moment lang die Augen und träumte sich zurück nach Berlin, wo sie damals noch gelebt hatten. Damals, als es noch eine Familie Gold gegeben hatte. Damals, damals, damals und nie mehr wieder. Wie oft hatte Amalia ihr Geschichten in der Dunkelheit vorgelesen?
    Sie lächelte still in sich hinein.
    Ja, das war eines ihrer allerliebsten Spiele gewesen.
    Amalia hatte am Abend einfach das Licht ausgeknipst, sich ein Buch genommen und behauptet, dass sie im Dunkeln lesen konnte.
    So hatte sie ein Märchen nach dem anderen erzählt.
    Bis zu dem Tag, an dem sie nicht wieder nach Hause gekommen war.
    Vesper betrachtete ihre Hände, die unruhig zitterten.
    Sie öffnete die Augen und betrachtete Greta.
    Fragte sich, in welchem Traumreich sie jetzt gerade war und wohin ihre Gedanken sie trieben.
    »Soll ich dir eine Geschichte erzählen?«, fragte sie.
    Greta schlief weiter.
    Vesper schaltete das Licht aus, überall im Zimmer. Nur das Licht von der Straße floss ruhig und sanft wie ein leuchtendes Elixier aus Mondenglanz über die wenigen
Möbelstücke und das Durcheinander auf Boden und Sesseln.
    »Im Dunkeln«, erklärte Vesper, »kann man besonders gut vorlesen.« Dann tat sie so, als schlüge sie ein Buch auf. »Bist du bereit?« Sie lächelte. »Was machen die Läuse, hören sie zu?« Sie räusperte sich. »Na ja, wenn sie lauschen, es ist auch eine Geschichte, die Läuse verstehen können.«
    Sie schaute zum Fenster hinaus. Schneeflocken deckten die Stadt zu wie ein Lied zur Nacht.
    »Es war einmal …«, begann Vesper. »Ja, es war einmal ein kleines Mädchen, das war dir gar nicht so unähnlich.« Sie streichelte das Haar der Kleinen. »Es war hübsch und mutig, doch dann geschah etwas Schreckliches.«
    Greta atmete ruhig weiter.
    »Das Mädchen«, fuhr Vesper fort, »irrte in der letzten Nacht des Jahres, der Silvesternacht, die eisig kalt und dunkel war wie unzählige Neujahrsnächte zuvor, durch die in klirrendem Frost erstarrte Winterstadt. Ganz blau waren seine Hände und ganz bleich das verzweifelte Gesicht mit den traurigen Augen. Die wenigen Bücher, die das Mädchen in einem Sack über der Schulter trug, waren alles, was es besaß.«
    Es hatte kein Zuhause mehr, und da war auch niemand, der sich um es gesorgt hätte. Einsam und allein wanderte das Mädchen durch die Stadt und bot alte Bücher feil, die es in den Abfällen gefunden hatte. Gar traurig stimmte es das Mädchen zu sehen, wie manche Menschen die Geschichten behandelten, die ihnen anvertraut worden waren. Denn nichts Geringeres waren Bücher
doch. Sie waren Geschichten, derer sich jemand angenommen hatte. Und jene, die die Bücher verstießen, besaßen zumeist ganz eisig kalte Herzen, die niemals mehr Wärme würden empfinden können. Oh ja, des Mädchens Großmutter hatte das gewusst, oft hatte sie es der Kleinen gesagt.
    Eine Bibliothek hatte die alte Frau besessen, damals, vor den Aufständen, als der Zar noch in der Stadt

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