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Grimm - Roman

Titel: Grimm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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sei jeder, der in einen Spiegel hineingeschaut habe, in diesem Wald hinter den Spiegeln verschwunden.«
    Vesper schluckte.
    Seht hin und fürchtet euch.
    Wie oft sah man in einen Spiegel hinein?
    Spieglein, Spieglein an der Wand …
    Wo befanden sich nicht überall spiegelnde Flächen? Eigentlich überall. Es waren nicht nur bloß Spiegel, sondern auch Fenster, Fassaden, womöglich sogar Telefone.
    Wer ist die Schönste …?
    Wie oft streifte der eigene Blick belanglos, unbedacht und nur flüchtig eine Spiegelfläche, wie oft am Tag betrachtete man sich selbst? Es war für die meisten Menschen zur unbewussten Gewohnheit geworden, sich beiläufig zu betrachten und sich zu vergewissern, dass die Klamotten gut saßen oder das Make-up noch in Ordnung
war. Die Spiegel waren, wie in den alten Märchen, der böse Fluch der Eitelkeit. Der Brunnen, in den man hineinfallen konnte, wenn man zu lange hineinsah.
    Spieglein, Spieglein …
    Nein, so etwas war nicht möglich.
    Vesper dachte an die Straßen, durch die sie jeden Tag gegangen war. An all die Plätze, die jetzt verwaist waren. Kurfürstendamm, Charlottenburg, Tiergarten, und an einen ihrer ehemaligen Lieblingsplätze, das Scheunenviertel - sie konnte sich diese Orte nicht ohne Menschen vorstellen.
    »Sie meinen, dass praktisch alle Einwohner Berlins hinter den Spiegeln verschwunden sind?«
    Eine unnötige Frage, denn die Antwort kannte sie.
    Sie starrte auf den kleinen Bildschirm.
    Unmöglich.
    Das durfte einfach nicht sein. Das konnte doch nicht möglich sein.
    Nein, nein, nein.
    Spieglein, Spieglein …
    Der Nachrichtensprecher schaltete zu einer Reporterin, die sich vor Ort in der Hauptstadt befand.
    Seht nur hin und fürchtet euch.
    Hinter der Reporterin, die sichtlich verunsichert war, sah man einen Spiegel, in dem sich Hunderte von Menschen drängten. Sie befand sich in irgendeinem Einkaufszentrum, wo überall Spiegel angebracht waren. Und in jedem dieser Spiegel waren Menschen gefangen. Sogar in den schmalen Spiegeln unterhalb der Rolltreppen kreischten
tonlos Verzweifelte und pressten die Gesichter gegen die Glaswand.
    Vesper fragte sich, warum die Soldaten und die Reporterin nicht auch in den Spiegeln verschwanden.
    Wie auch immer, es war nicht wirklich wichtig. Es war womöglich nur einmal und innerhalb einer bestimmten Zeit geschehen.
    »Die Mythen gewinnen an Macht«, stellte Jonathan Andersen fest.
    Vesper starrte nach draußen in die Nacht. »Sieht ganz so aus.« Wie Sterne, so tanzten die Schneeflocken einsam in der Nachtschwärze der Autobahn. Die Straße selbst war mit einer weißen Schicht bedeckt, die aufstob, wo der Wagen entlangraste.
    »Zwei Tage«, brachte es Leander auf den Punkt. »Wir haben zwei Tage, um sie aufzuhalten.«
    »Was haben sie denn vor?« Sie fand, dass diese Frage berechtigt war. Keiner hier wusste doch wirklich, was los war. Und was war der Plan? Sie fuhren durch die Nacht in den Harz.
    »Keiner weiß das. Aber es sieht nicht so aus, als sollten wir die zwei Tage abwarten, um es herauszufinden.« Darin stimmte sie zumindest mit Andersen überein.
    »Aber da ist noch etwas«, sagte Leander.
    »Ist nicht dein Ernst.« Wann hörte es denn endlich einmal auf. Das waren ein wenig zu viele Neuigkeiten auf einmal.
    »In München wurden Zwerge in der U-Bahn gesichtet.«

    Das klang ja vollkommen bescheuert. »Zwerge?« Vesper starrte ihn an und hätte beinah losgelacht.
    »Gleisarbeiter hörten scharrende Geräusche in einem der Versorgungstunnel. Sie gingen der Sache nach und trafen auf einen Trupp bleicher Gestalten von sehr kleinem Wuchs.«
    Zwerge, ach du lieber Himmel.
    Vesper konnte es nicht fassen.
    »Was ist passiert?«
    »Zwei der zehn Arbeiter wurden getötet«, sagte er, »drei weiteren wurden schwere Bisswunden zugefügt. Die anderen gelten als vermisst.« Leander schien wirklich keinen Scherz gemacht zu haben. »Es wurden Suchtrupps losgeschickt, bisher aber ohne Erfolg.«
    Zwerge!
    Das war doch verrückt.
    Sie dachte an die Illustrationen in den Bilderbüchern, die früher in dem bunten Regal in ihrem Zimmer mit der Dachschräge gestanden hatten. Zwerge waren für sie kleine Kerle mit Zipfelmützen, keine hungrigen Kreaturen, die Menschen anfielen und grausam zurichteten.
    Und als wäre dies nicht genug, verkündete Andersen noch: »Drüben bei den Trockendocks ist am späten Nachmittag angeblich ein Schiff mit Ausflüglern von Meerjungfrauen angegriffen worden.«
    Leander fasste nach hinten zum iPad und fand den Bericht,

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