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Grimm - Roman

Titel: Grimm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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Länder gehen wollte. Der junge Mann jedenfalls fing das Blatt ein, gab es ihr und erhielt dafür einen sicheren Platz in ihrem Herzen, den er so schnell nicht wieder zu verlassen gedachte.
    »Sie war ein wunderbarer Mensch.«
    Schön und geistreich und witzig.
    »Ja, das war etwas, was den wenigsten Menschen zu eigen ist. Sie konnte über sich lachen.«
    Doch dann, eines Tages, brachte sie seine naive Welt ins Wanken, weil sie ihm ein Geständnis machte.
    »Carlotta war ein angehendes Mitglied der Bohemia .«
    Ihre Mutter gehörte der geheimen Gesellschaft an, und sie sollte bald an deren Stelle treten.
    »Sie fürchtete sich davor.«
    Ihre Mutter arbeitete im Refugium in Freiburg. Sie war Ärztin. Was immer sie sonst noch tat, war Carlotta all die Jahre verborgen geblieben.
    »Carlotta gestand mir, dass es eigentlich ihr Auftrag gewesen sei, mich auszuspionieren.«
    Die Bohemia wollte wissen, was der junge Mann aus der Familie Andersen über die Gesellschaft wusste.
    »Sie weinte.«
    Man habe sie gezwungen, dies zu tun. Und dass sie sich in den jungen Mann verliebt hatte, war natürlich nicht geplant gewesen. Es tat ihr unendlich leid, und dann sprach sie von den Dingen, die sie zu tun gezwungen worden war. Ihre Mutter war doch ein Mitglied der Gesellschaft, und von ihr hatte sie die Fähigkeiten geerbt.

    »Aber auch Carlotta wusste nicht, woher diese Gabe grundsätzlich kommt. Natürlich, auch sie kannte die Geschichte von den Musen, aber das war auch schon alles.«
    Er schaffte es nicht, die Geschichte als Märchen zu erzählen. Zu sehr zu Herzen ging ihm das alles noch.
    »Carlotta berichtete an jenem Abend, als wir in meiner Wohnung waren, davon, dass man Experimente an den Mythen, die lebend gefangen worden waren, durchgeführt hatte.«
    »Dann stimmt es also.«
    Er nickte. »Sie wollte der Gesellschaft nicht beitreten, hatte aber Angst davor, dies ihrer Mutter zu sagen. Sie wusste nicht, ob man eine Ablehnung akzeptieren würde. Sie wusste nicht, wie die Strafe aussehen würde. Aus diesem Grund hatte sie sich freiwillig dazu gemeldet, mich zu bespitzeln. Sie wollte den Kontakt zu jemandem suchen, der nicht mehr der Gesellschaft angehörte.«
    Vesper fragte sich plötzlich, wann ihre Eltern mit einer ähnlichen Bitte an sie herangetreten wären. »Was ist dann passiert?«
    Er schwieg wieder. Räusperte sich. »Wir haben eine schöne Zeit verbracht. Tage, Wochen.« Seine Stimme krächzte. »Doch keine Monate.« Er fuhr jetzt ein wenig langsamer als noch vorhin. »Sie ist gestorben.« Er blickte starr nach vorn auf die Straße.
    Vesper wollte das Ende eigentlich nicht hören.
    »Sie hatte einen fürchterlichen Unfall. Ihr Wagen raste in einen Abgrund. Das jedenfalls war die offizielle Erklärung.«

    »Aber?«
    »Unfälle wie diesen gibt es nicht.«
    Vesper dachte an ihren Vater. An Leanders Eltern. An all die anderen, von denen in den Zeitungen berichtet worden war. Die Welt war so ungerecht und so böse.
    »Doch vorher«, fuhr er fort, »hat sie mir noch diesen Schlüssel und den Anhänger gegeben.«
    »Warum hat sie das getan?«
    »Ich weiß es nicht. Sie gab sie mir einfach, küsste mich und ging fort. Sie sagte, sie müsse die Beziehung beenden. Es dürfe nicht sein. Ich lief nach unten auf die Straße, ihr hinterher, doch im Nebel der Oktobernacht war sie bereits verschwunden. Ratlos lief ich umher, suchte nach ihr an den Orten, die wir gemeinsam aufgesucht hatten. Nichts.«
    Der Wald draußen wurde immer dichter und dunkler.
    »Am nächsten Morgen dann las ich in der Zeitung von ihrem Unfall. Ich fuhr nach Freiburg zu ihrer Mutter, stellte sie im Krankenhaus zur Rede. Sie erklärte mich für verrückt. Sie behauptete, nichts von einer Gesellschaft namens Bohemia zu wissen. Dann ließ sie mich vom Sicherheitsdienst vor die Tür setzen.« Seine Finger bewegten sich unruhig am Lenkrad hin und her. »Ich habe nie wieder mit ihr gesprochen.« Er sah Vesper im Rückspiegel an. »Sie ist vor zwei Wochen bei einem Unfall gestorben. Flugzeugabsturz. Sie besaß eine Cessna.«
    Vesper dachte an die Zeitungsartikel im Haus von Friedrich Coppelius. Hatte sie dort nicht eine Meldung diesbezüglich gefunden?

    »Die Gegenstände jedoch«, sagte Andersen, »die habe ich aufbewahrt.«
    »Sie haben keine Ahnung, warum Carlotta sie Ihnen gegeben hatte?«
    »Sie glaubte, dass gewisse Mythen erneut zum Leben erwacht seien und ihr folgten. Sie berichtete von Gerüchten, die in den Kreisen der Gesellschaft immer häufiger die

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