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Grimm - Roman

Titel: Grimm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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Konferenzraum befand. Dann, im nächsten Moment, war sie verschwunden.
    »Was war denn das?« Vesper zuckte zusammen, so schnell war es geschehen.
    »Sie ist verschwunden.« Leander betrachtete fasziniert den Bildschirm. »Es ist kaum zu glauben.«
    Vesper sah, wie andere Menschen verschwanden. Die Kamera fiel wieder zu Boden und blieb in einem Winkel liegen, der einen schrägen Blick auf den Spiegel zuließ.
    Vesper war sich sicher, die Kanzlerin im Spiegel zu erkennen. Aber sie war nicht allein. Da waren noch andere Menschen. Sie schlugen mit den Händen von der anderen Seite des Spiegels gegen das Glas. Ihre Münder waren aufgerissen, und sie schrien, aber niemand hörte sie.
    »Sie ist im Spiegel verschwunden.« Vesper konnte es nicht fassen. »Sie alle sind in der Spiegelwand verschwunden.« Sie rieb sich die Augen. Ihre Hände zitterten. Das hier war kein Trick. Sie hatte keine Ahnung, was es war. »Das gibt es doch nicht.«
    »Ja, faszinierend, oder?«, bemerkte Leander.
    Vesper indes starrte weiter auf die Fernsehbilder.
    Überall Aufruhr. Menschen liefen durcheinander. Füße traten auf die Kamera, das Bild erlosch.

    »Die Kanzlerin ist in diesem Spiegel verschwunden?« Sie musste es einfach in Worte fassen, um es glauben zu können.
    Der Nachrichtensprecher wirkte blass, als er verkündete, was geschehen war. Nach dem Vorfall sei der Kontakt zur Hauptstadt völlig abgebrochen. Niemand könne sich erklären, was da passiert sei.
    Leander kürzte die Sache ab, indem er sagte: »Sie haben Flugzeuge über der Stadt eingesetzt. Sie haben das gesamte Gebiet abgesucht.«
    »Wonach?«
    »Menschen«, antwortete Andersen. »Sie haben überprüft, ob noch Menschen in der Stadt sind.«
    Meinte er das ernst? »Sie haben nach Menschen gesucht. In Berlin?« Vesper dachte an die Gesichter aus ihrer alten Klasse, die Nachbarn, die Leute, denen sie jeden Tag über den Weg gelaufen war. Den Briefträger mit den langen Haaren, der immer über das Wetter hatte reden wollen; die dicke Frau am Kiosk, die Kinder am liebsten fortgejagt hatte, weil sie ihr die Zeitschriften durcheinanderbrachten; den Typ mit der schrottreifen Gitarre, der an der U-Bahn-Station vor ihrer Schule Lieder von Kurt Cobain gesungen hatte.
    »Das ist doch verrückt.«
    »Ja«, sagte Andersen, »das ist es.«
    Auf dem Bildschirm sah man startende Flugzeuge. Bilder von Berlin wurden eingeblendet. Polizisten und Soldaten, die Straßen abriegelten.
    »Überall sind sie verschwunden«, sagte Leander. »Jeder, der in einen Spiegel blickte, ist darin verschwunden.«

    »Das kann nicht sein.«
    »Sieh es dir an!«, forderte er sie auf.
    Und seht, was noch alles geschehen kann.
    Die Nachrichten hatten es bereits vor einer Stunde verkündet. Vesper dachte benommen daran, dass sie zu diesem Zeitpunkt gerade das Märchen zu Ende erzählt und Greta die Haare gestreichelt hatte. Während sie ruhig in Idas Wohnung auf der Couch gelegen hatte, da waren genau diese Nachrichten über den Äther gegangen. Die Stadt wurde unter Quarantäne gestellt. Luftaufnahmen in Infrarot zeigten, dass sich tatsächlich keine Menschen mehr auf den Straßen der Hauptstadt befanden. Innerhalb von zwei Stunden war beinahe jeder, der sich im Stadtgebiet von Berlin aufgehalten hatte, vom Erdboden verschwunden. Die wenigen, die übrig geblieben waren, versteckten sich vermutlich ratlos in ihren Wohnungen.
    Seht hin und fürchtet euch.
    »Das ist doch nicht möglich.«
    »Es kommt noch besser«, versprach Leander.
    Die Bilder wechselten sich im Sekundentakt ab. Man sah verwackelte Aufnahmen einer Kamera, die wohl von einem Soldaten getragen wurde.
    Seht hin.
    »Sie haben Suchtrupps in die Stadt geschickt und die Verschwundenen gefunden.«
    Was noch alles geschehen kann.
    Vesper sah das Kamerabild eines Restaurants. Die Wände waren allesamt verspiegelt. Hinter der Spiegelfläche drängten sich unglaublich viele Menschen, die mit weit aufgerissenen
Augen auf die andere Seite des Spiegels starrten. Viele von ihnen hieben wie tobsüchtig mit bloßen Fäusten auf das Glas ein, so als versuchten sie, es zu zerbrechen und auf die andere Seite, wo für sie immer noch ihre reale Welt war, zu gelangen.
    Und dann bemerkte Vesper den Hintergrund in dem Spiegel.
    Wilde, große Bäume erstreckten sich hinter den Menschen und wurden in der Tiefe des Raums von der Dunkelheit geschluckt.
    »Was ist denn das?«
    »Ein tiefer dunkler Wald.« Andersen schien die Bilder auswendig zu kennen. »Es sieht so aus, als

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