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Grimm - Roman

Titel: Grimm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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den er gesucht hatte.
    Vesper glotzte wie ein Schulkind auf die Bilder, welche die Homepage der Morgenpost vollkommen vereinnahmten.
Es handelte sich um eine verwackelte, undeutliche Videoaufnahme per Handy. Das Boot schaukelte durch den Hafen, als auf einmal an der Reling wilde Frauen mit breiten Mäulern voll scharfer Zähne auftauchten. Das Handy fiel zu Boden, man hörte noch einige Sekunden lang panische Schreie, wildes Fauchen und gutturales Knurren, dann war es auch schon vorbei und die Aufnahme zu Ende.
    »Was passiert da nur?«
    Andersen sagte ernst: »Sie gewinnen an Kraft.«
    »Weil die Menschen wieder an sie zu glauben beginnen?«
    »Ja.«
    Das hieß dann wohl, dass die Wölfe jetzt auch nicht mehr so unscharf waren wie noch einen Tag zuvor.
    »Und dann das hier.« Leander tippte weiter auf dem Display herum.
    Vesper sah ausländische Nachrichtensendungen. Die Übergriffe gab es bisher nur in Deutschland, doch bereiteten sich jetzt auch die anderen Länder darauf vor, ähnliche Probleme zu bekommen.
    »Alles okay?«, fragte Leander.
    Sie lachte laut auf. »Klar, mir geht es bestens.« Vesper wusste gar nicht mehr, wo ihr der Kopf stand.
    Und heute Nacht sollte jeder davon träumen, wo die Kinder waren … Die arme Ida.
    »Du kannst ihr helfen, indem du das tust, was du vorhast«, sagte Leander und ergriff ihre Hand.
    »Kannst du Gedanken lesen?«

    »Sehe ich so aus?«
    Sie schmunzelte, erwiderte den Händedruck. Es tat gut, eine Weile so zu sitzen.
    »Du hast sie sehr gern, nicht wahr?!«
    Vesper nickte. Sprechen wollte sie nicht.
    »Wir werden es schaffen«, versprach Leander zuversichtlich und zeigte sein entwaffnendes Lächeln.
    »Was denn?«
    Er grinste breit. »Was auch immer. Glaub mir. Ich weiß es.«
    Sie zwinkerte ihm zu, dann löste sie ihre Hand aus seiner. »Ich versuche jetzt ein wenig zu schlafen, okay?«
    »Okay.«
    Leander drehte sich um.
    Die Lichter Hamburgs verschwanden langsam in der Ferne.
    Vesper lehnte sich auf dem Rücksitz zurück und presste eines der Kissen gegen ihren Bauch. Sie brauchte jetzt etwas, woran sie sich festhalten konnte. Und wenn es auch nur ein Kissen war.
    In dem nächtlichen Rücklichterrot der Autobahn schloss sie die Augen und döste vor sich hin. Und sie fragte sich, ob all die Menschen, die jetzt einen schlimmen Traum erwarteten, überhaupt ein Auge würden zutun können.
    Vorn hörte sie, wie Andersen und Leander über den Harz sprachen. Über die alten Sagen und die Natur, die wild und urtümlich war. Dann klatschte Leander plötzlich laut in die Hände, wie er es zu tun pflegte, wenn die Begeisterung die Oberhand gewann. Irgendetwas von einer
Funkstation faselte er, und Vesper öffnete die Augen ein wenig und blinzelte müde nach vorn.
    War hier denn gar keine Ruhe zu finden?
    Draußen raste ein Schild vorbei. Sie waren auf dem Weg nach Hannover.
    »Was ist denn los?«, knurrte sie müde.
    »Oh, habe ich dich geweckt?«
    »Nein, das täuscht«, grummelte sie und drückte das Kissen an sich. »Ich hatte nur zwei Minuten die Augen geschlossen.«
    »Du hast eine Funkstation gefunden?« Andersen schien verdutzt.
    Leander nickte eifrig. »Na ja, die Mythen müssen von irgendwoher senden, denke ich. Okay, vielleicht ist auch alles pure Magie.« Es klang fast schon spöttisch. »Aber wenn es das nicht ist, dann brauchen sie nun einmal einen Sender. Und hier, auf dem Brocken, befindet sich ein altes Sendezentrum.«
    Andersen schnalzte mit der Zunge. »Das ist gut«, gab er anerkennend zu.
    Das ist gut geraten, dachte Vesper schläfrig. Sie wollte jetzt einfach nur ein wenig schlafen. War das denn zu viel verlangt? Sie schloss erneut die Augen, fest, fest, ganz fest. Und dieses Mal schlief sie ein, fast auf der Stelle, und während sie durch die Nacht fuhren, fand Vesper keinen einzigen Traum, der von ihr geträumt werden wollte.

     
     
     
    Als Vesper wieder erwachte, wusste sie zuerst gar nicht, wo sie war. Leander döste vorn anscheinend vor sich hin. Sein Kopf lehnte am Fenster, und sein Atem ging ruhig und gleichmäßig. Außerdem redete er ausnahmsweise mal nicht.
    Andersen indes war hellwach. Sein ernstes Gesicht spiegelte sich in der dunklen Windschutzscheibe, wo es aussah, als bestünde es aus wild heranfliegenden Schneeflocken.
    »Du bist wach«, sagte er leise.
    »Ja.« Sie fühlte sich beinahe wie ertappt.
    »Leander schläft tief und fest.«
    »Ja, er ist so still.«
    »Es ist gut, wir werden alle unsere Kräfte brauchen, wenn wir dort

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