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Grimm - Roman

Titel: Grimm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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sprach der Mann.
    Eure Kinder, die Stimme klang finster, bedrohlich und rau, sind an einem Ort, an den ihr nicht gelangen könnt. Dort werden sie bleiben, bis der Gerechtigkeit Genüge getan ist. Die Regierungsoberhäupter wurden darüber in Kenntnis gesetzt, was nun zu tun ist. Jeder von euch, der heute Nacht schläft, wird sich in einem Traum wiederfinden, den er nur einmal träumt. In dem Traum werdet ihr sehen, wo eure Kinder sind. Ihr werdet sehen, was ihnen zustoßen kann, sollten nicht binnen zweier Tage unsere Forderungen erfüllt werden.
    »Oh Gott«, flüsterte Vesper und dachte an Ida. Sie war so fertig gewesen, eine weitere Hiobsbotschaft würde sie nicht verkraften.
    Ich bin der wundersame Spielmann. Ein hohles, boshaftes Lachen erklang, kehlig und irgendwie klimpernd wie Kirmesbudenmusik. Ich bin der Grund, weshalb ihr euch vor der Nacht fürchtet. Ich bin euer schlimmster Traum. In zwei Tagen werdet ihr eure Kinder für immer verlieren, wenn ihr nicht sehen lernt. Also öffnet die Augen. Und seht, was noch alles geschehen kann. Seht hin und fürchtet euch. Er machte eine Pause. Und denkt euch die Welt, wie sie schal ist und leer ohne Kinderlachen.
    Das Bild wurde schlagartig hell, und da war wieder der Zoo mit dem kleinen Mädchen und dem Waschbären und einem Mann, der ihr alles über Waschbären erklärte.
    Vesper stoppte die Aufnahme.

    Leander drehte sich zu ihr um und musterte sie. »Das ist alles, was er sagte.«
    »Wer ist der Kerl?«, fragte Vesper.
    »Der wundersame Spielmann.« So, wie Andersen es gerade betonte, klang es wie ein Fluch.
    War das wirklich möglich? »Dieselbe Person, die damals in Hameln aufgetaucht ist?«
    Andersen schüttelte den Kopf. »Nein, ich glaube nicht, dass er so alt ist. Aber er hilft den Mythen, so viel ist klar. Ich bin mir sicher, dass er ein Mensch ist. Womöglich ist er derjenige, der ihnen den Weg ins Bewusstsein der Menschen geebnet hat.« Er sah sehr bedrückt aus. »Die Mythen haben es ihm zu verdanken, dass die Menschen sie wieder wahrzunehmen beginnen.«
    Vesper schluckte.
    Ja, darauf schien es hinauszulaufen. Die Mythen wollten, dass die Menschen an sie glaubten.
    Zwei Tage.
    Und denkt euch die Welt, wie sie schal ist und leer ohne Kinderlachen.
    Vesper spürte, wie sich alles in ihr verkrampfte.
    »Was ist sonst noch passiert?« Die beiden sahen so aus, als seien noch viele andere Dinge geschehen.
    Leander beugte sich zu ihr nach hinten, streckte den Arm aus, tippte auf dem iPad herum, bis eine neue Bilddatei erschien.
    »Schau dir das an!«, sagte er.
    Vesper nahm wie beiläufig wahr, dass sie die Straße verließen und bereits auf die Autobahn auffuhren.

    »Das ist eine Nachrichtensendung.«
    Der Sprecher, der langweilig und nervös aussah, berichtete hektisch von einer Konferenz, die am Nachmittag in der Hauptstadt abgehalten worden war. Da waren eine Phalanx aus Reportern, Blitzlichtgewitter, Kameras, bullige Sicherheitskräfte in dunklen Anzügen.
    Der Innenminister hatte zu einer Pressekonferenz eingeladen, im Beisein der Kanzlerin und des Außenministers. Es wurde geredet, Fragen wurden gestellt. Wie steht die Regierung zu den Vorfällen? Wie real ist die Bedrohung? Was wird mit den Kindern geschehen? Wie reagiert man in den anderen Ländern auf die Vorfälle? Die Antworten blieben dürftig und überaus nichtssagend. Die Situation sei ernst. Man arbeite an Lösungen. Man wisse derzeit nichts Genaues. Die Staatschefs stünden in engem Kontakt zueinander. Tag und Nacht würde beratschlagt. Die Fragen wurden immer aufgeregter: Wie sieht die Regierung das Ultimatum? Von welchen Forderungen hat der Maskenmann gesprochen? Die Antwort immer wieder: Alle Informationen würden geprüft. Man sei zuversichtlich.
    Vesper fragte sich, wohin das führen sollte.
    Starrte auf den Bildschirm.
    Der Innenminister wand sich, Kanzlerin und Außenminister ebenso. Plötzlich brach Unruhe aus.
    Man hörte panische Schreie von irgendwoher. Man sah Sicherheitskräfte, die schnell den Raum verließen. Die Schreie wurden lauter. Die Kamera wackelte, fiel zu Boden. Die Bilder wurden unscharf. Jemand hob die Kamera auf und lief aus dem Konferenzraum, in dem die Pressekonferenz
abgehalten worden war. Überall rannten die Menschen nach draußen. Schreie ertönten, unkontrolliert und panisch. Keiner schien zu wissen, wovor er da eigentlich weglief. Dann sah man kurz, wie die Kanzlerin ins Bild kam. Sie lief an einer Spiegelwand vorbei, die sich wohl im Korridor vor dem

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