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Grimm - Roman

Titel: Grimm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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blickte nach draußen auf ein Städtchen, das wie die nebelverhangene Kulisse zu einem Gruselfilm von Tim Burton aussah.
    Wohin man auch schaute, überall Fachwerkhäuser mit Ziertürmchen und spitzen Dächern, breiten Balken und kunstvollen Fenstern. Unten in den Straßen erwachte die kleine Stadt zum Leben. Geschäfte wurden beliefert, die Menschen schippten Schnee von den Bürgersteigen, redeten und gestikulierten wild mit den Händen. Das Leben ging hier eben weiter, trotz der Dinge, die sich draußen in der Welt zutrugen.
    Langsam wurde Vesper wach.
    Die Menschen unten in der Straße sahen aufgeregt aus. Sie steckten die Köpfe zusammen und redeten mit weit ausholenden Gesten.
    Sofort fiel ihr ein, dass die Nacht vorüber war.
    Der Traum!
    Seht hin, was wir tun können.
    Mit einem Mal war sie hellwach. Sie kramte in ihrer Jacke nach dem Telefon und rief Ida an.
    »Wo bist du?«
    »In Wernigerode im Harz.«
    »Klingt spannend.«

    Vesper versuchte zu ergründen, wie es Ida ging, aber ihre Stimme klang wie ein Echo.
    »Ich habe wieder einen Traum gehabt«, sagte sie. »Alle haben ihn gehabt.«
    »Ich weiß.« Vesper erzählte ihr von der Autofahrt. »Was hast du gesehen?«
    Stille.
    Knacken in der Verbindung.
    »Wölfe«, sagte Ida schließlich. »Sie standen am Rande einer Lichtung und warteten auf die Kinder.« Ihre Stimme zitterte. »Dann sind sie losgelaufen, ein ganzes Rudel. Sie sind über die Kinder hergefallen und …« Erneutes Knacken in der Verbindung. »Seltsame Wesen, die wie Häuser aussahen. Sie waren böse und …«
    Nein, sie wollte das nicht hören. »Wie geht es Greta?«
    »Sie schläft. Ich glaube, dass nur die Eltern diesen Traum hatten.«
    »Ja, vielleicht.«
    »Vesper?«
    Sie schluckte. »Ja.«
    »Glaubst du, dass es passieren wird? Dass die Kinder jetzt an einem Ort sind, an dem es böse Wölfe und andere Kreaturen gibt?«
    Vesper schwieg.
    »Glaubst du, dass in zwei Tagen …«
    »Nein«, sagte Vesper schnell. »Nein, Ida, ich bin sicher, dass wir eine Lösung finden.«
    Ida begann zu weinen.
    »Es wird alles wieder gut werden«, versprach Vesper.

    »Pass du bloß auf dich auf«, sagte Ida nur, dann legte sie auf. Vesper drückte das Telefon an ihre Brust und hielt es einige Augenblicke lang so fest, als enthalte es ihr ganzes altes Leben.
    Sie schloss die Augen, atmete tief durch. Dann ging sie duschen, schminkte sich gedankenverloren, zauberte sich Schatten um die Augen, die noch grüner und stechender wirkten dadurch. Anschließend kramte sie in der Reisetasche herum, fand eine Reihe neuer Klamotten, lauter Sachen, die auf eine bevorstehende Wanderung durch den tiefen Winterwald hindeuteten.
    Nun denn.
    Ihr sollte es recht sein.
    Sie schlüpfte flink in die bequemen Trekkingsachen hinein, zog sich die klobigen Wanderschuhe an, schnürte sie, so fest es ging. Immerhin, die meisten Kleidungsstücke waren schwarz, das war doch ein Anfang. Sie zog einen Kapuzensweater über und wickelte sich den petrolfarbenen Schal um den Hals. Sie betrachtete den Ring, der an ihrem Finger prangte. Den Ring, hinter dem sie her waren.
    Sie suchte nach ihrem iPod, schaltete ihn ein, weil sie ein Lied hören wollte, um ruhig zu werden. Stattdessen fand sie heraus, dass der Akku leer war und sie das Ladegerät verlegt hatte.
    Mist aber auch.
    Sie seufzte.
    Was soll’s, dachte sie.
    Dann ging sie nach unten in den Speisesaal, begrüßte die anderen, knabberte an einem Croissant herum und
schlürfte einen großen Milchkaffee mit Sahne und Schokostreuseln. Leander beobachtete sie, was sie nicht störte.
    Andersen wirkte seltsam geistesabwesend. Er stocherte in seinem Rührei herum und schien keinerlei Appetit zu haben. Am Ende trank er wenigstens den Orangensaft, was sie als gutes Zeichen wertete.
    Vesper fragte nicht nach, ob es Neuigkeiten gab, denn sie wollte keine hören. Und auch die anderen beiden schienen die selige Ruhe beim Frühstück dem Gespräch vorzuziehen.
    Eine halbe Stunde später hatten sie gepackt, saßen im Rover und fuhren los.
     
     
     
    »Warum haben Sie die Hexe eigentlich nicht schon früher aufgesucht?«, fragte Vesper.
    »Ich fürchte, sie mag mich nicht«, gab Andersen zur Antwort.
    Tolle Aussichten, dachte Vesper.
    Ihr Weg führte sie aus Wernigerode hinaus. Sie folgten einigen Straßen, die eng und geheimnisvoll waren. Dichte Tannen bogen sich zu beiden Seiten der Fahrbahn unter dem Schnee. Andersen schaltete in den Vierradantrieb um, und der Rover preschte voran, als kenne er

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