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Grimm - Roman

Titel: Grimm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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Runde machten.«
    »Wann war das?«
    »Vor nahezu zwanzig Jahren.«
    »Aber warum hat sie Ihnen die Gegenstände gegeben?« Sie hätte doch erst in ein paar Jahren die Nachfolge ihrer Mutter antreten sollen. »Wieso war sie überhaupt im Besitz der Gegenstände?«
    »Sie hat sie ihrer Mutter gestohlen.«
    Vesper war jetzt hellwach. »Aber warum?«
    Andersen zuckte die Achseln. »Ich habe keine Ahnung.«
    »Deswegen interessieren Sie sich dafür.«
    »Ich will herausfinden, was mit ihr geschehen ist. Wenn die Mythen für ihren Tod verantwortlich sind, dann will ich, dass sie dafür bezahlen. Wenn es aber nicht die Mythen waren, dann …« Er sprach den Satz nicht zu Ende. »Ich will einfach wissen, was hier gespielt wird.« Die Nacht war dunkler geworden, bei jedem Satz, den er gesprochen hatte, ein wenig mehr. »Ich habe sie geliebt, wie es einem nur einmal im Leben passiert.«
    Die Straße wand sich wie eine Schlange durch die Nacht.
    Vesper wusste nicht, was sie sagen sollte.
    »Du siehst, wir haben alle eine Geschichte zu erzählen.«

    »Ja.«
    »Und Leander hier?«
    Der Angesprochene regte sich vorsichtig. »Der hat leise gelauscht«, sagte er müde. Er sah Andersen blinzelnd an und fragte: »Schlimm?«
    »Nein, kein Problem. Es verkürzt die Zeit, wenn man beim Fahren jemanden hat, dem man eine alte Geschichte erzählen kann.« Die Tränen, die eben noch wie Tau in seiner Stimme gefunkelt hatten, waren verschwunden. »Und jetzt erzählt mir eure Geschichten«, bat er sie.
    So fuhren sie weiter durch die Nacht. Leander machte den Anfang, und dann war Vesper an der Reihe. Die Geschichten, die sie einander erzählten, waren so wahr wie die Blicke, die sie einander zuwarfen. Alles andere war es auch, und das war gut so. Vesper wusste es, Leander ebenso, und Jonathan Andersen, der die beiden beobachtete und nicht blind war, sah es natürlich auch.

Im letzten Licht der Nacht
    S ie erreichten den kleinen Ort Wernigerode kurz nach Mitternacht. Wie ein Traumgebilde erschien er im Schneegestöber. Die Ziegeldächer waren dicht vom Schnee bedeckt, und nur lückenhaft drang das Rot hervor und leuchtete wie Blut im Licht der vielen Laternen, die nicht nur die schmalen Gassen erhellten. Es gab sogar ein Schloss, hoch oben auf dem Berg, ein wenig außerhalb der Altstadt, die von Teilen einer altehrwürdigen mächtigen Stadtmauer umgrenzt wurde. Häuser mit Bezeichnungen wie Grafenhof und Ritterhof waren zu erkennen, daneben das Heideviertel mit den viel kleineren Häusern, in denen früher einmal arme Tagelöhner und Büdner gelebt hatten.
    Jonathan Andersen hielt vor einem Gasthaus an, das den klangvollen Namen Zum tanzenden Bären trug. Vesper fragte sich, ob hier jemals der Bär in der Stadt tanzte, dachte dann aber nicht weiter darüber nach.
    »Sieht aus wie im Märchen«, stellte Leander fest. Er sah müde und erschöpft aus.

    Die Nacht würde noch ein paar Stunden andauern. Zeit genug also, um ein wenig Ruhe zu finden.
    Sie stiegen aus.
    Die Luft hier war anders als in Hamburg. Irgendwie war sie reiner und klarer, doch das mochte am Schnee liegen, der dem Ort sogar seine Geräusche nahm.
    Alles wirkte verhuscht und leise.
    Sogar die Nacht selbst war nur ein Flüstern, still wie das Geräusch von vielen Mäusefüßchen auf warmem Holzboden.
    Vesper nahm ihren Rucksack und die Reisetasche, die Leander und Andersen für sie gekauft hatten, und folgte den anderen beiden ins Gasthaus. Von unterwegs aus hatten sie dort zwei Zimmer für die Nacht gebucht. Infolge der unglückseligen Umstände hatten einige Familien ihren Winterurlaub abgesagt, und die Zimmer waren kurzfristig frei geworden.
    Das Wirtshaus jedenfalls war einfach und rustikal. Definitiv keine Spur von einem tanzenden Bären. Dafür gab es schmucke Muster im Gebälk, die allem den Hauch von Folklore gaben.
    Die Zimmer waren eng und gemütlich erdrückend. Massive Möbel, Schemel und Bett, gedrungener Schrank. Spiegel. Vesper starrte hinein, musste an Berlin denken.
    Egal.
    Sie ließ sich einfach aufs Bett fallen. Ohne auch nur noch ein einziges Mal zu blinzeln, schlief sie in ihren Klamotten ein. Sie bemerkte nicht, wie Leander neben ihr ins Bett kroch. Sie träumte nicht und wachte erst auf, als
Leander sie mit einem sanften Kuss weckte und zum Frühstück rief.
    »Du hast im Schlaf geweint«, sagte er.
    Sie sah ihn nur an.
    Dann, während Leander schon nach unten in den Speisesaal ging, tapste sie verschlafen zum Fenster, schob die Vorhänge beiseite,

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