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Grimm - Roman

Titel: Grimm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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hatten sie nicht die geringste Chance.
    Die Kinder in den Käfigen weinten, die hageren Gesichter wirkten leblos und ausgezehrt.
    »Greta muss irgendwo dort bei ihnen sein.« Die Worte blieben ihr fast schon im Halse stecken. Aufgeregt blickte sie zwischen all den Spiegelstücken umher.
    War das möglich?
    In manchen Spiegelscherben konnte man fabrikähnliche Gebäude erkennen, rostige Schienen und Lokomotiven mit Loren, die auf ihnen fuhren. Da waren Höhlen, in denen sonderbare Gerätschaften aufgebaut waren, wilde Sammelsurien aus Drähten und Rohren, Metallträgern, Holzverstrebungen und Plastikteilen. Sie schnauften
wie lebendige Wesen, stießen rußige Wolken aus oder zischend Wasserdampf hervor. Da waren Bewegungen in der Dunkelheit jenseits der Käfige. Körper zuckten in den langgezogenen Schatten, Klauen wurden gewetzt. Die Wesen, die man nicht sehen konnte, bewegten sich unablässig in den Schatten. Gestalten, von denen man in sturmumtosten einsamen Nächten träumte und an die man sich nicht mehr erinnern konnte, wenn man erst schreiend und verschwitzt aufgewacht war, lebten dort noch immer. Sie waren die Märchen, die niemand mehr erzählte.
    »Sie sind gefangen.«
    Alle drei zuckten zusammen, als sie die Stimme hörten. Sie klang, als kaue jemand klares Glas.
    Eine wunderschöne Frau stand inmitten der Spiegelscherben. Keiner von ihnen hatte gehört, wie sie sich genähert hatte. Es war, als habe sie sich einfach aus dem Nichts materialisiert.
    »Wer sind Sie?«, fragte Leander.
    Vesper erschauderte.
    Die junge Frau trug ein langes, altmodisches Kleid. Dunkles Blau im grellen Schnee. Ihr hageres Gesicht war von makelloser Schönheit, rein wie Ebenholz und zart wie Samt. Doch anstelle von Augen erblühten zwei Rosen in ihrem Gesicht, bestehend aus nichts als gezackten Laubblättern. Zwischen den schmalen Lippen erkannte man Dornen, die spitz wie Stecknadeln aus dem Zahnfleisch ragten.
    »Ich bin die Wächterin dieser Spiegelscherbensplitter«, sagte sie mit einer gläsernen Stimme und lächelte dabei.

    »Wer sind Sie?«, fragte Andersen.
    »Einst nannte man mich Dornröschen.« Die Rosenlaubblätterblüten bewegten sich wie Augäpfel.
    »Wir sind Reisende«, sagte Andersen.
    Vesper und Leander standen dicht beieinander.
    »Dann sucht ihr die Königin.«
    »Ja.«
    »Seid ihr gut oder böse?«
    »Kommt darauf an«, antwortete Leander schnell. Er griff in die Hosentasche, wo sich seine Uhr befand.
    Dornröschen lächelte mit einem Mal nicht mehr. »Ihr seid hier, um all diese Kinder zu suchen.« Die spitzen Dornenzähne rieben sich klirrend aneinander, wenn sie redete. »Es ist euch nicht erlaubt, sie mitzunehmen. Sie gehören jetzt uns.« Sie deutete zu den Spiegelscherben. »Wir hüten jetzt die Kinder.« Sie seufzte. »Und all die anderen auch.«
    »Was passiert mit ihnen?«
    »Sie wissen jetzt, dass es uns gibt.«
    Vesper schluckte.
    »Sollten sie jemals heimkehren, werden sie niemals vergessen, was sie erlebt haben.«
    »Warum tut ihr das?«
    »Die Wölfe werden bald hier sein«, sagte Dornröschen, ohne Vespers Frage zu beachten.
    Verdammt, sie wissen, dass wir hier sind. Leander und Vesper tauschten besorgte Blicke.
    »Aber sie werden nichts mehr vorfinden, wovor sie sich fürchten müssen.« Die Glasstimme war voller Scherbenstücke,
als sie das wisperte. »Nein, niemand wird mehr da sein.«
    Andersen trat zur Seite.
    Dornröschen bleckte die stecknadelspitzen Dornenzähne. »Ich rieche, dass ihr Böses bringt.«
    »Sie wollen uns töten?«
    »Ich werde euch küssen«, versprach sie. Sie kicherte. »Habt ihr eine Ahnung, wie schön bittersüß meine Küsse schmecken?« Ihre Rosenlaubblätteraugen warfen Leander einen tiefen Blick zu. »Mit dir, Kleiner, werde ich beginnen. Glaub mir, ich trage dich in den Himmel und küsse dir das Fleisch von der Seele.«
    Erst jetzt fielen Vesper die Knochen auf, die aus dem Schnee ragten. Überall verstreut lagen sie herum. Arglose Wanderer, die nicht auf die Ratschläge gehört hatten. Schädelknochen und Gerippe lagen zwischen den Spiegelstücken wie auf einem Schlachtfeld.
    Der Märchenwald ist definitiv nicht meine Welt, dachte Vesper.
    »Und Sie fragen uns, ob wir böse sind?« Leander hielt jetzt die Uhr in der Hand.
    »Der Wald«, säuselte Dornröschen, »ist gefährlich. Man sollte ihn meiden. Hat euch das nie jemand gesagt?«
    Noch bevor Vesper etwas erwidern konnte, überschlugen sich bereits die Ereignisse.
    Dornröschen sprang auf Leander zu, doch

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