Grimm - Roman
Leanders Fingerzeig.
»Sind das Wurzeln?«
Andersen nickte. »Wir müssen uns in Acht nehmen.«
Die Wurzeln der großen Bäume schlängelten sich über den gefrorenen Boden.
Erst jetzt sah Vesper, dass sich auch die Äste bewegten. Und das war kein Wind, der sie hin und her schwenken ließ. Wie Arme griffen sie um sich, zogen sich an anderen Bäumen weiter. Dann erkannte sie die Bewegungen der Wurzeln unter der Erde und auch darüber im Schnee.
»Sie wandern«, stellte Andersen fest.
Na, klasse.
Wandernde Bäume!
Aus den Astlöchern dampfte heiß ihr Atem, selbst das Laub auf dem Boden bewegte sich nach Regeln, die nicht dem Wind gehorchten. Auch machten die Bäume Geräusche. Sie wisperten einander zu, wie Lebewesen es taten.
»Als würden sie merken, dass wir hier sind.«
Buchen, Stechpalmen, Haselsträucher und Hartriegel. Mit wilden Weinranken, Efeu, hoch oben sogar Misteln
an den Ästen. Beschattet von hohen Tannen und Kiefern, weniger kahl als ihre Artgenossen und grimmig dreinblickend. In dem Dämmerlicht mochten sich nebelgraue Wesen verbergen und lauern, tief im Boden, unter und hinter dem Moos, mit langen Gesichtern wie Erde und Gliedmaßen wie Geäst.
Nein, Vesper fühlte sich hier nicht wohl.
Die Winterwelt war nicht ihr Ding, ganz klar.
Da waren Eichen, die mächtig und mürrisch wirkten. Ihre dicken Wurzeln in der Erde gruben sich Wege, durch die in ihrem Gefolge andere Wesen kriechen mochten. An den Steilhängen wuchsen Winterlinden, am Boden Kreuzdorn und andere geheimnisvolle Pflanzen.
Sie sahen winzige Tiere durch die Schatten huschen. Später auch große mit bulligen Körpern, grunzende, wilde Eber, dann wieder kleine hauchige Wesen, die im Wind schwebten.
»Was ist mit dem Spiegel?«, wollte Vesper wissen. Das Ding stand mitten im Wald, als würde es nur in dieser Welt stehen. »Ich meine, werden wir den Spiegel wieder benutzen, wenn wir zurückwollen?«
Andersen ging nicht näher darauf ein. »Wir werden sehen«, war alles, was er dazu sagte.
Vermutlich weiß er es selbst nicht, dachte Vesper. Das lautstarke Echo des heftigen Spiegeltraums hallte noch immer in ihr nach. War sie wirklich so herzlos gewesen? Insgeheim kannte sie die Antwort - und sie wusste auch, dass es dieses Wissen war, das sie den Spiegel hatte passieren lassen. Sie hatte in den Spiegel hineingeschaut, sich
selbst gesehen und diesem Anblick standgehalten. Und was immer auch Leander erblickt hatte, er war in ihrem Traum gewesen. Sie hatten das, was sie gesehen hatten, gemeinsam durchlebt.
Herrje, wenn das nichts zu bedeuten hat.
Vesper spürte ein wohliges Gefühl in sich drinnen, da, wo das Herz schlug. »Wohin sollen wir uns jetzt wenden?«, fragte sie.
»Immer der Nase nach«, schlug Leander vor. Er latschte, fasziniert von allem, einfach los.
»Na, klasse. Toller Vorschlag.«
Folgen wir weiter der Spur aus Rosenstaub.
Sie gingen über eine Anhöhe, hinter der sich ein trostloser Himmel erhob. Eis und Schnee machten das Wandern beschwerlich. Im feinen Pulverschnee konnte man die Spuren von Tieren erkennen. Schmale Pfade durch das Weiß, Abdrücke von Pfoten, Krallen, Füßchen.
Hinter jedem Baum erwartete Vesper eine neue Gefahr, doch erst einmal war da gar nichts.
Alles blieb ruhig.
Bis sie die Lichtung erreichten.
»Was, in aller Welt, ist denn das?« Andersen, der den Anfang ihrer kleinen Gruppe bildete, blieb stehen.
Der Wald öffnete sich hier dem Himmel. Die Bäume sahen faul und tot aus, nicht einmal der Wind wehte hier.
»Bleib bei mir«, hörte sie Leander dicht neben sich sagen.
»Okay.« Jetzt sah auch Vesper, was Andersen meinte.
Da waren Spiegelscherben, so hoch wie ein großer Mann.
Sie steckten wie abgebrochene Zähne in der Erde zwischen den Bäumen, und in allen Spiegelscherben waren verschiedene Landschaften zu erkennen. Immer sahen sie ganz anders aus. Exotisch, düster, fern. Es gab Wüsteneien und Eisberge, tiefe Höhlen, Strände, an denen seltsame Wesen herumkrochen. Da waren Dörfer und Städte und Orte, die wie nichts waren, was Vesper jemals erblickt hatte.
»Da sind die Kinder«, stellte Leander fest.
Vesper flüsterte: »Greta.«
Sie liefen alle zu den Spiegelscherben und sahen erschrocken hinein. Überall in den Landschaften, die dort zu sehen waren, befanden sich Käfige, manche groß, viele klein. In ihnen waren unzählige Kinder und Erwachsene gefangen. Sie reckten verzweifelt die Arme zwischen den Gitterstäben hindurch und versuchten zu entkommen, doch
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