Grimm - Roman
wichtig. Wird schon werden.« Eine kurze Pause. »Kommst du ins Theater?«
»Vielleicht, mal schauen.« Sie erwähnte die SMS ihrer Mutter.
»Melde dich, wenn dir danach ist«, sagte Ida zum Abschied.
»Grüß Greta von mir«, sagte Vesper. Und dann, leise: »Danke, für alles.«
Dann legte sie auf.
Ein eisiger Wind ließ sie frösteln.
Drüben am Glockengießerwall sprang Vesper behände die vielen breiten Treppenstufen hinauf, bis sie vor dem mächtigen terrakottafarbenen Backsteinbau mit den vielen Figuren in der Mauer stand, der, im Gegensatz zu dem aus Muschelkalkstein bestehenden Kuppelanbau und der sehr kastenförmig modernen Galerie der Gegenwart, immerhin wie ein Gebäude aussah, das Kunst beherbergte.
Maxime Gold hatte ihr immer schon alte Gemälde gezeigt und sie sodann gebeten, ihm zu erzählen, was sie in den Bildern erkannte. Skurrilerweise war dies die Erinnerung, die Vesper am ehesten mit ihrem Vater verband. Sie hatte nie einen Bezug zu den Filmen gehabt, die er gedreht hatte, sie waren ihr zu künstlerisch und zu langweilig dahergekommen. Die düsteren Gemälde Caspar David Friedrichs hingegen waren etwas, worin sie ihren Vater erkennen konnte. Überall in dem Haus, in dem sie aufgewachsen war, hatten Nachdrucke romantischer Gemälde gehangen, und immer hatte ihr Vater seine beiden Töchter
dazu ermutigt, die Geschichten in diesen Bildern zu suchen. Er hatte all die Märchen, die er seinen Töchtern erzählt hatte, mit den Gemälden der Romantiker verbunden.
»In jedem dieser alten Gemälde«, hatte er ihnen mit großer Ernsthaftigkeit eingeschärft, »sind Geschichten verborgen. Man muss sie nur entdecken.« Dann hatte er den Zeigefinger erhoben und hinzugefügt: »Und festhalten muss man sie, das ist überhaupt das Allerwichtigste.«
Vesper seufzte.
Deswegen war sie also hier. Wegen nostalgischer Erinnerungen an Dinge, die ihr Vater gemocht hatte.
Egal!
Sie musste eine halbe Stunde warten, bis die Kunsthalle öffnete, dann löste sie eine Eintrittskarte, schob sich durch die Tür ins Innere.
Als sei es gestern gewesen …
Ja, sie war heute hier, weil es die alten Geschichten waren, die sie mit ihrem Vater verbunden hatten und die vielleicht ein wenig Trost spenden konnten. Aus keinem anderen Grund. Immer hatten sie einander Dinge erzählt. Auch später noch, als ihre Schwester nicht mehr bei ihnen gewesen war und die berühmte Margo Gold die Konzertsäle der Gesellschaft der ihr noch gebliebenen Tochter vorgezogen hatte.
Die Wände seiner Wohnung, dachte Vesper, waren bestimmt über und über mit den Kunstdrucken bedeckt, die er so geliebt hatte.
Sie musste lächeln, wenn auch nur kurz.
Als sie gemeinsam hier gewesen waren, da hatte ihr Vater sie zu einem ganz bestimmten Bild geführt. Davor waren sie dann ganz lange stehen geblieben, und Vesper hatte versucht zu ergründen, was es mit diesem Bild auf sich hatte. Schon damals - meine Güte, keine fünf Monate war das her - hatte sie die Kälte gespürt, die von ihm ausging, die frostige Schicksalhaftigkeit.
Jetzt war sie wieder hier, auf dem Weg zu dem Gemälde, das ihr Vater so geliebt hatte.
Ohne Umschweife ging sie durchs Erdgeschoss zum Café Liebermann, das sich in der historischen Säulenhalle befand, trank dort gierig einen Kaffee und aß unlustig von einem Stück selbstgebackenem Kuchen.
Sie scheute sich davor, sofort nach oben zu gehen, und außerdem hatte sie keine Eile, da sie nach dem Besuch in der Kunsthalle die Villa ihrer Mutter aufsuchen musste.
Also saß sie eine Weile müde und ihren Gedanken nachhängend an einem der runden Tische und beobachtete die anderen Besucher, die vornehmlich Zeitung lesend ihren Kaffee oder Tee tranken.
Schließlich begab sie sich nach oben in die Galerie des 19. Jahrhunderts mit ihrem schwarz-weißen Karomuster-Steinboden.
Das Gemälde, dessentwegen sie hergekommen war, hing noch immer in Raum 120. Vierzehn Bilder des Malers Caspar David Friedrich befanden sich dort und begrüßten Vesper, als sei sie nie fort gewesen.
Die junge Frau betrachtete die allesamt düsteren und romantischen Landschaftsmalereien, während sie an ihnen
vorbeischritt, und sie fragte sich, ob die alten Gemälde wirklich die Geheimnisse hüteten, von denen ihr Vater immer behauptet hatte, dass sie existieren.
Dann erreichte sie das Gemälde, um das es ihr ging.
Das Eismeer.
Wie angewurzelt blieb sie davor stehen. Und wie damals, als sie ihren Vater begleitet hatte, wunderte sie sich, wie klein das Bild
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