Grimm - Roman
doch war. Viele der anderen Bilder - Wanderer über dem Nebelmeer oder Meeresküste bei Mondschein - waren beeindruckend und unheilschwanger, doch keines wirkte so geheimnisvoll und düster wie Das Eismeer .
Still und ehrfurchtsvoll betrachtete sie das Bild.
Was hatte ihr Vater nur an diesem Gemälde gefunden? Von all den Bildern, die er ihr gezeigt hatte, war dies sein liebstes gewesen. Stundenlang hatte er den Nachdruck, der in seinem gemütlichen Arbeitszimmer an der Wand über dem Schreibtisch gehangen hatte, betrachtet, dabei heißen exotischen Tee getrunken und seine Pfeife geraucht.
»Jedes Bild«, erinnerte sie sich und konnte fast seine Stimme hören, »erzählt seine eigene Geschichte. Wenn du es lange genug betrachtest, dann wirst du sie erkennen.«
Und hier sah sie …
Was?
Eine Expedition ins Eismeer, ein stolzes Schiff mit hohen Masten, das zur Beute der klirrenden Winterwelt wurde. Spitze Eisschollen schoben sich wie böse Splitter in den
Himmel hinein, wie die Zähne einer monströsen Kreatur. Zähne, die alles zu zermalmen drohten, was sich an Schöpfung in ihre Nähe wagte.
Die Eiseskälte, die aus dem Gemälde tropfte, ließ Vesper frösteln.
Sie betrachtete das Wrack des Schiffes, dessen Masten von den Eisschollen überragt wurden. Eigentlich konnte man das Schiff kaum erkennen, so versteckt lag es da.
Sie rieb sich müde die Augen.
Je länger Vesper das Gemälde betrachtete, umso mehr tauchte sie in es ein. Fast war ihr, als könne sie die lauten Schreie der Seeleute hören. Der Maler hatte keine Menschen in dieses unwirtliche Eismeer gemalt; sie mochten sich im Bauch des Schiffes verstecken oder tot sein oder die Flucht über das Eis angetreten haben.
»Ein Bild mit einem Geheimnis«, hörte sie eine Stimme sagen. Erschrocken fuhr sie herum.
Der junge Mann, den sie nicht hatte kommen hören und der dicht neben ihr stand, trug ein braunes TweedJackett, die dazu passende Hose, überhaupt nicht zu allem anderen passende schwere und ebenfalls braune Stiefel, eine altmodische Fliege. Das braune Haar stand ihm wie wild vom Kopf ab, und eine unruhige Tolle baumelte rastlos vor seiner hohen Stirn. Eine Hand ruhte einen Moment lang auf dem kantigen Kinn, dann steckte er sie in die Hosentasche und machte eine schaukelnde Bewegung zur Seite, als würde er auf einem für alle unsichtbaren Seil balancieren.
»Kennen wir uns?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, ich denke nicht.« Er griff in die Tasche seines Jacketts und hielt sogleich einen Apfel in der Hand. »Möchtest du?«
Instinktiv schüttelte Vesper den Kopf. »Nein, danke.«
Er biss hinein, kaute energisch, schluckte. » Das Eismeer, hm«, murmelte er. »Man weiß nicht, was aus der Mannschaft geworden ist, aber man spürt die Kälte und die Verzweiflung.« Er biss erneut in den Apfel hinein. »Sie ist überall, diese Verzweiflung, in den Formen und Farben und dem, was dazwischen verborgen ist.« Er lächelte sie an und deutete auf das Bild. »Das Eis drückt die mächtigen Schollen immer weiter gegen den Rumpf des Schiffes, und bald schon wird es zerbersten unter der Kraft der Natur.«
»Du bist sehr gesprächig«, sagte Vesper.
»Nein, eigentlich nicht. Bin eher der schweigsame Typ.« Er sah sie an. Aus dunklen braunen Augen. »Weißt du was? Das Schiff dort wird sinken. Mit Mann und Maus.«
Wer war der Kerl?
Vesper schätzte, dass er kaum älter war als sie selbst - was bedeutete, dass er vermutlich auch die Schule schwänzte. Andererseits sah er wie ein Student aus. Nein, verbesserte sie sich, eher wie ein Student, der sich wie ein alter Professor gekleidet hatte.
»Was hat diese Seeleute wohl dorthin verschlagen?« Diese Frage hatte ihr Vater auch immer gestellt.
Vesper wusste nicht, warum sie ihm antwortete. »Sie waren Entdecker.« Das war die Antwort, die ihr am glaubwürdigsten
erschien - und die sie auch immer ihrem Vater gegeben hatte.
»Aber was wollten sie entdecken?«, fragte der junge Mann.
»Das Eismeer?«
Er lachte. Biss erneut in den Apfel.
Vesper grollte.
Ihr Vater hatte auch immer gelacht, und dann war er ernst geworden. Eine Antwort auf diese Frage jedoch hatte Vesper nie erhalten. Noch ein Rätsel, das sie aus der Kindheit mitgenommen hatte.
»Du siehst traurig aus«, erkannte der junge Mann.
»Eigentlich wollte ich allein sein.« Sie wusste, dass sie sich störrisch anhörte und unfreundlich.
»Ja, ja, ich auch.« Ein tiefer Schatten huschte über sein Gesicht. »Aber dann sehe ich dich, und du
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