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Grimm - Roman

Titel: Grimm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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betrachtest das gleiche Bild.« Er klatschte in die Hände. »Na ja, keine Ahnung, was das bedeutet.« Er grinste. »Ein Zeichen?«
    Na, wenigstens schien er einen seltsamen Sinn für Humor zu besitzen.
    »Wir sind in der Kunsthalle. Hier betrachten viele Leute die gleichen Bilder.«
    Er hob den Zeigefinger, was sehr belehrend wirkte. »Nicht so, nein. Nicht. So. Wie du. Das Bild hat eine Bedeutung für dich.«
    Was sollte das werden?
    Er wartete nicht ab, ob sie ihm antworten würde. »Für mich hat es auch eine Bedeutung.«
    »Ach, ja?«

    Er nickte. »Ja.« Biss wieder in den Apfel.
    Sie seufzte. Es schien nicht einfach zu sein, ihn abzuwimmeln. »Sagst du mir auch, welche Bedeutung es für dich hat?«
    Er überlegte kurz und sagte dann: »Ist sehr persönlich.«
    »So?«
    »Für dich ist es auch sehr persönlich.« Er fuchtelte mit dem Finger vor ihrem Gesicht herum. »Man sieht es dir an. Du bist hier, weil es dich an etwas erinnert.« Er seufzte, und etwas, was verborgene Traurigkeit oder Reue sein mochte, lag in seinem Blick. »Geht mir genauso.«
    »Du bist wirklich gar nicht gesprächig«, stellte Vesper fest.
    Er grinste, irgendwie frech und sehr jungenhaft. »Sagte ich doch.«
    Sie betrachtete erneut das Bild.
    Und malte sich dabei die neue Wohnung ihres Vaters aus. Sie war noch nie dort gewesen. Aber sie stellte sich vor, wie ihr Vater regungslos auf dem Boden lag und von einer hübschen jungen Schauspielerin gefunden wurde. Die Szene spielte sich ab, als sei sie einem billigen Film entnommen, die Schauspielerin sah aus wie eine extrem schlampige Megan Fox und ihr Vater wie Ian McKellan (was der Wirklichkeit sogar vermutlich erschreckend nahe kam). Sie spürte die Träne, die ihr zögerlich über die Wange rann. Womöglich war er sogar in Gegenwart genau dieses Gemäldes gestorben. Vielleicht war das Eismeer mit seiner kalten schicksalhaften Darstellung des dramatischen
Schiffsuntergangs das Letzte gewesen, was Maxime Gold in seinem Leben gesehen hatte?
    Vesper atmete tief durch.
    Ihre Hände zitterten.
    Warum nur war sie wirklich hier?
    War dies alles, was ihr von ihm geblieben war? Nur dieses kleine Gemälde, das ein Eismeer zeigte?
    Ihre Finger umspielten einander nervös.
    »Es stört dich doch nicht, wenn wir das Bild gemeinsam betrachten?«
    Der Junge nervte. »Eigentlich schon.«
    »Okay, dann gehe ich ein wenig auf Distanz.« Er trat zwei Schritte zur Seite. »Etwa so.«
    Wer war der Typ? Er wirkte verschroben, irgendwie auch nett, aber definitiv auch nervig.
    »Noch einen Schritt.«
    Widerwillig musste sie lächeln.
    »Du hast gelächelt«, stellte er fest.
    Sie erwiderte nichts.
    »Ich bleibe hier stehen, genau an dieser Stelle, und wir betrachten das Bild gemeinsam.«
    Er konnte einfach nicht den Mund halten!
    »Was wird das hier?«
    Er beugte sich ein wenig nach vorn, balancierte wieder unruhig herum. »Wie meinst du das?«
    »Du bist dir im Klaren darüber, dass dies die dämlichste Anmache überhaupt ist?«
    Er schüttelte schnell den Kopf. »Oh, nein, ist es nicht. Tut mir leid, wenn ich so wirke. Wirke ich so? Nein, ich
denke nicht.« Er fuhr sich durchs Haar, atmete tief durch. »Meine Eltern sind kürzlich verstorben, das ist alles. Oh, du musst jetzt nichts sagen. Bitte, sag einfach nichts. Ich bin hier, weil ich das Bild mag. Genau dieses Bild da. Das Eismeer. Es erinnert mich an … nun ja, egal.«
    Sie starrte ihn an.
    War das möglich?
    Konnte so etwas ein Zufall sein, oder steckte mehr dahinter?
    »Du …«
    Er zuckte die Achseln. »Deswegen bin ich hier.«
    »Das tut mir leid«, flüsterte sie schließlich. Auf einmal kam sie sich unfair und dumm vor.
    Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Weißt du was? Wir stehen hier einfach eine Weile herum und schweigen.«
    »Kriegst du das denn hin?« Irgendwie schaffte er es, sie aufzuheitern.
    »Zu schweigen?«
    »Ja.«
    »Denke schon.« Er lächelte sie an, als habe er etwas ausgefressen. »Du musst dir also keine Gedanken machen. Wir haben uns einander nicht vorgestellt, was okay ist. Zwischen uns bleibt alles unverbindlich. Wir sind einfach nur zwei Besucher in der Kunsthalle, zwei Fremde, die vor diesem Bild hier stehen und es betrachten.«
    Vesper konnte das Lächeln nicht länger unterdrücken. »Gut«, sagte sie. Was hatte sie schon zu verlieren?
    Er klatschte in die Hände. »Toll, das wäre also geklärt.«

    Dann hielt er den Mund. Tatsächlich!
    Vesper betrachtete abwechselnd das Gemälde und den fremden jungen Mann. In

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