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Grimm - Roman

Titel: Grimm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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Harvey und Willy Fritsch, mit Klebestreifen an Rahmen geheftet. An der gegenüberliegenden Wand ein Dead-Man -Plakat mit dem jungen, ziemlich bekifft aussehenden Johnny Depp darauf. Außerdem zierte noch eine gerahmte Programmankündigung von Engelbert Humperdincks Hänsel und Gretel , der ersten Oper, zu der Vesper - letztes Jahr und damals noch in Berlin - die Kostüme geschneidert hatte, den Platz über ihrem Arbeitstisch, gefolgt von einem Ina-Müller-Plakat, das gleich über der Nähmaschine hing.
    Das hier war die Welt, die sie sich selbst zusammengebastelt hatte. Ihre Bastelwohnung, sozusagen.
    Sie schnappte sich ihr Handy und rief in stiller Verzweiflung ihre Mutter an, doch Margo war nicht erreichbar.

    Sie hinterließ eine Nachricht und rief Ida an.
    »Mein Vater ist tot.«
    »Ich habe es gehört, in den Nachrichten. Vesper, es tut mir so leid. Wo bist du?« Sie klang aufgeregt.
    »Zu Hause.« Sie erzählte ihr von der Begegnung im Fackelholz , und es war, als lausche sie jemandem Fremden.
    »Willst du herkommen, zu uns?« Ida und ihre Tochter wohnten in einer kleinen Wohnung an der Stadthausbrücke, gar nicht weit von ihr.
    »Danke, wirklich«, flüsterte Vesper. »Aber ich denke, dass ich allein sein will.« Pause. »Allein sein muss .« Nur das Klappern der Heizung und ihr Atmen. »Ich weiß nicht, aber ich bin so müde.«
    »Ist schon gut.«
    »Wie geht es Greta?« Sie musste über etwas anderes reden. Irgendwas, und wenn es nur die Läuse waren.
    »Nicht gut. Sie ist ohnmächtig geworden.«
    Vesper beschlich wieder ein ungutes Gefühl, lähmend wie eine Vorahnung, die bald zum Leben erwachen würde.
    »Herrje, wie denn das?«
    »Ich weiß es nicht.« Sie schluckte, holte tief Luft. »Wir waren beim Arzt, wegen der Läuse. Bei Frau Dr. Beuting, der Kinderärztin.« Es knackte in der Leitung. »Das klingt jetzt sehr seltsam, Vesper, aber plötzlich wurden alle Kinder im Wartezimmer ohnmächtig. Na ja, zumindest dachten wir, dass sie ohnmächtig wurden. Aber in Wirklichkeit sind sie eingeschlafen.«
    Vesper stutzte.

    Sie verstand nicht ganz, was Ida ihr damit sagen wollte. »Du meinst, sie ist einfach eingeschlafen?«
    »Nicht nur sie. Alle Kinder im Wartezimmer sind gleichzeitig eingeschlafen. Sie haben einfach alle die Augen zugemacht und sind eingeschlafen. Für genau fünf Minuten, dann sind sie alle wieder wach geworden.« Ida hörte sich völlig aufgelöst an. Erst jetzt fiel Vesper auf, wie panisch ihre Freundin klang.
    »Was hat die Ärztin gesagt?«
    »Sie hat ihr Bestes getan. Sie hatte aber überhaupt keine Ahnung, was genau da vorgefallen ist.«
    Vesper spürte, dass das nicht alles war. Sie kannte Ida gut. Der Unterton in ihrer Stimme verriet Panik.
    »Es war vor fünf Minuten in den Nachrichten«, sagte Ida. »Sie haben eine Sondersendung gebracht.«
    »Wegen der Kinder?« Was, in aller Welt, fragte sich Vesper, war hier los?
    »Ja.«
    »Aber …«
    Jetzt konnte sie die laut hervorbrechende Angst in der Stimme am Telefon fast berühren. »Es ist überall passiert, Vesper. Frag mich nicht, wie das sein kann oder warum es passiert ist, aber es ist überall passiert!«
    »Was meinst du damit, überall?«
    »Na, überall eben.«
    »In der Stadt?«
    »Nein, überall.«
    »Im Land?«
    »Überall in Europa. Ich weiß nicht genau, überall eben.«

    Stille.
    Vesper wusste gar nicht mehr, was sie denken sollte.
    »Um exakt sieben Minuten nach sechs am frühen Abend sind alle Kinder für fünf Minuten eingeschlafen.«
    Vesper fragte sich, wie viele Kinder es in Europa gab. »Das ist doch nicht möglich.«
    »Doch, ist es.«
    Vesper schaltete den alten Fernseher ein, den ihre Großeltern ihr vererbt hatten, und arbeitete sich mithilfe des großen Drehknopfs durch die Kanäle. Überall liefen Sondersendungen zu diesem Thema. Verwackelte Aufnahmen von Kindern, die auf dem Boden lagen und schliefen, gefilmt mit Handys. Schnelle Schnitte in die Büros und Fernsehstudios. Selbst ernannte Experten und Pädagogen, Kinderärzte und Psychologen redeten in die Kameras und bekräftigten unsicher ihre Ratlosigkeit.
    »Ich sehe es«, bestätigte Vesper nur. Was war denn da nur los? »Wie geht es Greta jetzt?«
    »Bestens. Sie hat nur fünf Minuten geschlafen, das ist alles. Die Kinder sind wach geworden, und es war vorbei.«
    Vesper schloss die Augen.
    Mädchen, weich vom Wege nicht.
    An Tagen wie diesem war wirklich alles möglich.
    »Kann ich dir irgendwie helfen?«, fragte sie.
    Ida lachte traurig. »Vesper,

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