Grimm - Roman
dein Vater ist tot. Ich sollte dich fragen, wie ich dir helfen kann.«
»Er ist tot, daran kann niemand etwas ändern.« Wir waren uns so fremd geworden, dachte sie. »Es kam so
überraschend. Und es ist von einem Unfall und sogar von Mord die Rede.« Ungeklärte Umstände, das war der offizielle Wortlaut. »Ich weiß nicht, was da los war.« Sie kannte ja nicht einmal den Namen seiner Freundin. Außer ihrer Mutter gab es niemanden, den sie anrufen konnte. »Ich komme schon klar, Ida. Ganz sicher.«
»Du kannst jederzeit herkommen, das weißt du.«
»Weiß ich. Danke.«
Sie schwiegen noch eine Weile gemeinsam am Telefon. Unendlich gut tat das.
Dann legte Vesper auf.
Auf dem Display war in der Zwischenzeit eine SMS eingegangen. Habe es eben erfahren. Sage Konzerte ab, kehre nach Hamburg zurück. Sehe dich morgen. Daheim.
Vesper seufzte. Sie legte das Handy auf den Boden, schaltete das Licht aus und legte sich auf ihr Bett. Sie dachte an zu viele Dinge, an die sie jetzt nicht denken sollte, und versank ganz tief im Anblick der Regentropfen auf dem Fenster, kleinen Rinnsalen, die fortspülten, was sonst zu bösen Träumen hätte werden können.
Sie rollte sich wie eine Katze zusammen, atmete, lauschte ihrem eigenen Herzschlag.
Und irgendwann in dieser Nacht schlief sie dann endlich ein.
Das Eismeer in traurigen Augen, so grün
A m Morgen stolperte sie über die ihr wie beiläufig vor die Füße geworfene Schlagzeile. Das Abendblatt lag auf der Treppe vor der Wohnung ihres Nachbarn, und Vespers Blick fiel nur flüchtig darauf. Sie ging nach unten zum Bäcker und kaufte sich zwei Croissants, kehrte nach oben in die Wohnung zurück und trank ihren schwarzen Kaffee.
Im Radio kam ein Bericht über die eingeschlafenen Kinder und irgendwelche Eltern, die über Albträume klagten.
Sie starrte zum Fenster hinaus.
Die Stadt war grau in grau.
Müde fuhr sie den Laptop hoch und überflog ihre Mails. Viele ihrer Freunde aus Berlin schickten ihr Beileidsbekundungen. Sie las nicht die Nachrichten, nur die Namen derer, die sie geschickt hatten. Sie schluckte. Ihr altes Leben, da war es, fast greifbar.
Sie klickte sich zur Presseerklärung des Konzertveranstalters, der bedauernd bekanntgab, dass Margo Gold ihre Tournee für eine Woche unterbrechen würde.
Vesper fragte sich insgeheim, warum Margo das tat. In den letzten Jahren hatten Maxime und sie immer weniger miteinander zu tun gehabt. Die Vorstellung, dass sie ihn vielleicht doch noch geliebt hatte, hatte jedoch etwas Tröstliches.
Sie rief in der Schule an und meldete sich krank. Die Entschuldigung, die sie vorbrachte, war gegen jeden Zweifel erhaben - da konnten sogar die Wissmann und Frau Dr. von Stein nichts sagen. Sie entledigte sich aller Schulsachen, stopfte nur Dinge, die ihr wirklich wichtig waren, in den Rucksack und zog los.
Schnell schritt sie in die graue kalte Welt hinaus.
Sie wusste genau, wo sie hingehen würde.
Es gab nur einen Ort, an dem sie jetzt sein wollte. Einen Platz, an dem sie ihm nahe sein würde.
Die Kunsthalle!
Maxime Gold war nur ein einziges Mal bei ihr in Hamburg gewesen. Er hatte ihr dabei geholfen, die Wohnung einzurichten. Als alles fertig war, hatte er sie zu den Gemälden entführt.
Wenn es also einen Ort gab, an dem sie ihren Vater spüren konnte, dann war es dieser.
So lief sie eilig durch die Straßen, vorbei an St. Michaelis mit dem riesigen Engel, den Wind in Gesicht und Haar.
Die Titelseite der Zeitung war allzeit bei ihr.
Die Schlagzeile, darunter ein Bild: ihr Vater bei der Premiere seines letzten Films (Im Kabinett des Dr. Seltsam). Dicht an seiner Seite eine junge Frau, die Vesper nicht
kannte und die kaum älter zu sein schien als Vesper selbst.
An einem Kiosk am Steintorwall blieb sie stehen, weil ihr ein anderes Blatt ins Auge stach. Diesmal war es die Morgenpost , wo neben einer sich aufreizend räkelnden Schauspielerin die Fotografie eines großen Wolfs abgebildet war.
Wölfe an der Spree?, fragte die Schlagzeile dazu.
Wie vom Donner gerührt starrte Vesper die Zeitung an.
Sie trat näher und las den Artikel.
»Wölfe«, flüsterte sie leise, furchtsam.
Ein Schaudern erfasste sie, kälter als der Herbstwind, der bald Winter in die Stadt bringen würde.
War dies ein Zufall, konnte das sein?
Mehrere Passanten hatten die Berliner Polizei davon in Kenntnis gesetzt, dass sie in der Nacht Wölfe gesichtet hätten. Große Tiere mit grauem, zottigem Fell, so wurde die Aussage einer aufgeregten
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