Grimm - Roman
anderen Klamotten hätte er eine passable Figur abgegeben, aber so sah er aus wie jemand, der gern als Archäologe in einem Abenteuerfilm aus den späten Fünfzigerjahren aufgetreten wäre. Er stand ruhig da und betrachtete, wie versprochen, das Bild. Er ließ Vesper in Ruhe.
Seltsamer Kerl.
Sie versuchte ihn zu ignorieren und konzentrierte sich auf das Gemälde.
Die Kälte.
Jedes Gemälde erzählt eine Geschichte.
Erneut betrachtete sie die Eisschollen, die sich spitz gegeneinanderschoben. Die Kraft, mit der die Eisschollen sich erhoben, war allgegenwärtig. Fast war ihr, als sei es ihr eigenes Leben, das dort im Eismeer sein Ende fand.
Dummes Zeug, dachte sie.
Schüttelte den Kopf.
Ungeduld und Wut zerrten plötzlich an ihr.
Ihre Kindheit, Maxime und Margo. All diese schnöden, faden Erinnerungen, diese Schnappschüsse, wozu waren sie noch gut? Sie war gerade einmal siebzehn und lebte mitten in einem wilden Durcheinander von Dingen.
»Entschuldige …«
Sie wurde aus ihren Gedanken gerissen.
»Ich gehe jetzt.«
Was sollte sie darauf erwidern? »Ja, ist gut.«
»Es war schön, dir zufällig zu begegnen.«
»Ja.«
»Viel Glück«, wünschte er ihr.
»Wozu?«
»Wir alle brauchen Glück, oder etwa nicht?« Er sah sie lange an. »Du hast wunderschöne Augen.« Er ließ sie erst gar nicht zu Wort kommen, plapperte einfach weiter drauflos. »Aber sie sehen sehr traurig aus.« Die unruhigen Finger zupften an der Tolle, die bei jeder Bewegung seines Kopfs auf und nieder hüpfte. »Ich wünsch dir so viel Glück, dass deine Augen wieder zu lachen lernen.«
»Ja«, war alles, was sie zustande brachte.
Er machte auf dem Absatz kehrt und latschte mit beschwingtem Gang aus dem Raum.
Plötzlich war sie wieder allein mit dem Eismeer .
Warum passierten ihr andauernd so komische Sachen? Sie starrte dorthin, wo der Junge eben noch gestanden hatte.
Dann wandte sie sich wieder dem Gemälde zu.
All dem Tod.
Eis.
Verderben.
Nein, sie wollte es nicht länger betrachten. Das alles war so seltsam, als folge sie einem Drehbuch, aus dem ihr Vater einen skurrilen Film gemacht hätte. Die Gestalt, die ihr angeblich durch die Nacht folgte, der nervige Typ, der sie hier anquatschte, in den Nachrichten die Berichte über die Wölfe an der Spree, die eingeschlafenen Kinder und die bösen Träume, die so viele Menschen vergangene Nacht angeblich gehabt hatten.
War es ein Zufall, dass all das auf einmal passierte?
»Lebwohl«, flüsterte sie und schaute das Bild an. Auf einmal hatte sie das Gefühl, ganz schnell von hier verschwinden zu müssen.
So ging sie also mit immer schneller werdenden Schritten dem Ausgang entgegen. Der Hals schnürte sich ihr bitterschnell zu, und ihre schmalen Lippen bebten, doch entrann ihren Augen keine einzige Träne, nicht eine einzige, winzige. Es kam ihr so vor, als habe sie alle Tränen am Vorabend bereits vergossen.
Vesper war in die Kunsthalle gekommen, um Abschied zu nehmen. Das hatte sie getan.
Zeit, diese Brücke hinter sich zu lassen.
Sie lief hinaus in die Welt, die ihr an diesem Morgen wie ein verwunschener Wald aus Mauerwerk, Farblosigkeit und Regen vorkam, und schaute nicht mehr zurück. Denn der Anblick für immer eingestürzter Brücken war etwas, was sie heute nicht hätte ertragen können.
Sie zog den Schal enger um den Hals und schlug den Kragen der Jacke hoch; so ging sie zum Alsterufer. Der Wind zerrte an ihrer Kleidung, und das einzige Boot, das verlassen auf dem tiefgrauen Wasser schaukelte, wirkte einsam, ziellos und verlassen.
Vesper inhalierte die kalte Luft und widerstand dem Drang, sich eine weitere Zigarette anzuzünden.
Langsam ging sie an der Alster entlang und betrachtete müde die Fassaden der großen Jugendstilhäuser. Das
Hotel Atlantik Kempinski, das weiße Schloss an der Alster, der Pavillon, der Jungfernsteg und all die anderen edlen Gebäude, die ihren Weg säumten, waren kaum mehr als eine Kulisse an jenem Morgen. Die Autos waren wie wilde Tiere, die ungeduldig, boshaft und hungrig ächzten, mit leuchtenden Scheinwerfern, wütenden Augen gleich, ihren Weg durch den Wald suchten.
Vesper nahm das Handy aus der Tasche und rief ihre Mutter an. Niemand da.
Kurz darauf erhielt sie eine SMS: Bin zu Hause. Erwarte dich. Bitte komm bald.
Sie ließ das Handy in ihrer Lederjacke verschwinden und machte sich auf den Weg.
So wanderte sie die Alster entlang, alles andere als begierig darauf, ihr Ziel zu erreichen.
Hin und wieder drehte sie
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